Angela Carter, Nights at the Circus, 1984 (dt. Ausgabe: Nächte im Zirkus, Klett-Cotta, 1991, 434 Seiten)
Wow! Ein märchenhafter, ein wahrhaftig traumartiger Roman, der in der englischen Literatur für viele zum Kanon gehört, auch ins Deutsche übersetzt wurde, aber hier weitgehend unbekannt zu sein scheint. Zu Unrecht, denn der Roman ist etwas ganz Besonderes. Ich habe noch keinen ähnlichen gelesen.
Worum geht es?
Es geht in dem Roman um die Luftakrobatin Sophie Fevvers, über 1,90 m groß und grob, blond und – nach eigener Aussage – halb Mensch, halb Vogel mit großen Flügeln, die ihr nach der Geschlechtsreife auf dem Rücken wuchsen. Wir begegnen ihr in der Garderobe nach der Zirkusshow, wo der Journalist Jack Walser sie interviewen möchte. Er zweifelt erst an, dass sie tatsächlich ein Hybridwesen ist, als er sich aber dann in sie verliebt, so dass die Zweifel zunehmend schwinden. Sophie erzählt zunächst ihre Geschichte, von den Anfängen in einem Bordell, über eine Freakshow mit weiblichen Monstern, bis sie schließlich Teil des Circus wurde, dann nimmt sie Jack Walser mit auf die große imperiale Tournee, die sie bis nach Petersburg führt, wo der zweite Teil des Romans spielt und Walser zum Hilfsclown wird. Die Handlung des dritten und letzten Teils ist in Sibirien angesetzt, wo sich ein Gefängnis (ein Panoptikum) für Männermörderinnen befindet.
Kritik
Der pikareske Roman war in das Genre „Fantasy“ einsortiert worden (wodurch ich ihn fast übersehen hätte). Ja, das mag vielleicht – je nach Definition – stimmen, ich würde ihn eher als märchenhaft oder surrealistisch bezeichnen, denn er transportiert eine sehr traumartige, bisweilen auch alptraumhafte Stimmung. Die Handlung ist irgendwie abstrus, aber ihr wohnt gleichzeitig eine Logik inne, so wie es bei einem Traum eben ist. In Madame Schreck’s Freakshow (die eigentlich ein Bordell ist) befindet sich zum Beispiel Sleeping Beauty (Schneewittchen), eine Frau, die als Jugendliche eingeschlafen ist, und die nun ausgestellt wird, aber nichts von ihrer Umgebung mitbekommt. Mignon im zweiten Teil, wächst in einem Waisenhaus auf, bis sie zu einem Mann kommt, der vorgibt, ein Medium zu sein, um mit dem Eltern verstorbener junger Mädchen zu kommunizieren. Als dieses Spiel auffliegt, gerät sie an einen alkoholkranken Trainer von recht menschlichen Affen im Zirkus, der sie täglich schlägt. Was mich sehr fasziniert hat, ist die Sprache, die so sonderbar und märchenhaft ist, dass sie mich elegant durch die Handlung begleitet hat, dass ich nur so durch die Seiten geflogen bin.
»Wohin sie auch ging, teilten sich die Wasser, drohten Kriege, verfinsterten sich Sonnen, las man in den Zeitungen, daß es Frösche und Schuhe geregnet hatte, und der König von Portugal schenkte ihr ein Springseil aus eiförmigen Perlen, das sie auf die Bank brachte.« Mich erinnert Carters Umgang mit Sprache, gerade in dem Teil, der in St. Petersburg spielt, irgendwie an die Petersburger Hängung von Bildern im Museum. Carter zeichnet so viele Bilder, erfindet so viele groteske, unheimliche, seltsame Figuren, untereinander, nebeneinander, übereinander, dass es eine reine Freude ist, ihr staunend beim Fabulieren zuzuhören. Dieser Roman ist es wert, ihn Zeile für Zeile zu lesen. Und auch mehrfach.
Im dritten Teil, in Sibirien, wird die Geschichte immer spannender, wilder und abstruser. Und es ist dennoch so wie im Traum. Auch wenn da plötzlich ein Sturm aufzieht, alle verschwunden sind, dann eine Hütte mit Tigern auf dem Dach erscheint und man Menschen trifft, die man nie erwartet hätte, ist es im logisch. Und es macht daher einfach Spaß, sich auf den Roman einzulassen. Gerade in diesem dritten Teil werden einige wichtige moralische Fragen angesprochen und diskutiert. Denn wie in einem Traum geht es nicht einfach nur um wild zusammengestellte Szenen, sondern es steckt eine tiefe Symbolik darin.
Mit den ersten weiblichen Figuren, denen der Leser begegnet, klingt schon an, dass Carter neben der makaber-fantastischen Handlung eine zweite Ebene eröffnet, es geht um unterschiedliche Frauen und auch um ihre Ausbeutung (auch von Frauen). Man mag hier historische Analogien sehen, man kann sicherlich den Roman so deuten, dass Carter hier in einer fantastischen Rahmenhandlung einige der Frauen wie z.B. Fevvers als Suffragetten (als New Woman) sieht, die seinerzeit auch als Freaks oder als Monstren gesehen wurden. Und man muss bedenken, dass die Erzählung im Jahr 1899 spielt – ein neues Jahrhundert bricht an.
Die leider viel zu früh verstorbene Autorin Angela Carter kannte ich übrigens durch einige Neuerzählungen von Märchen (ganz klar für Erwachsene), worunter ich die des Blaubart ganz faszinierend finde (Die Sammlung „Bloody Chamber“ ist 1982 im Rowohlt Verlag als „Blaubarts Zimmer“ erschienen). Daher empfehle ich die hier gleich einmal mit.
Für wen ist dieser Roman etwas?
Sicherlich für alle, die eine Liebe zum Fantastischen haben, das sich jenseits von Mittelalter, Schattenwelten, Trollen und Elfen abspielt. Für alle, die Spaß am Märchenhaften haben, nicht vor grotesken Szenarien zurückschrecken und die auch für einige vergnügliche Lesestunden auf Logik verzichten können. Für jeden, der auch Spaß an dem Spiel mit Sprache haben. Ach so, und es ist kein Roman für Kinder. Carter ist nicht prüde. Und auch nicht zimperlich.