New York im Jahre 1871.
Stellen Sie sich vor, Sie sehen Ihren Vater in einem von Pferden gezogenen Omnibus.
Stellen Sie sich vor, er sitzt dort zusammen mit ein paar anderen alten Herren und schaut gänzlich unverwandt durch Sie hindurch.
Stellen Sie sich vor, all dies passiert einige Monate nach der Beerdigung Ihres Vaters.
Würden Sie an sich zweifeln? An der Klarheit Ihrer Sinne? Oder würden Sie plötzlich alles Geschehene in Frage stellen?
Der amerikanische Autor Edgar Lawrence Doctorow lässt seine Romanfigur Martin Pemberton genau diesen Albtraum durchleben. Martin, der als freier Journalist für mehrere Zeitungen arbeitet, gilt als schwermütig. Er ist hochsensibel, klug und äußerst eigenwillig. Als Schreiberling verdient er wenig und schlägt sich mehr schlecht als recht durch – doch dieses entbehrungsreiche Leben ist frei gewählt. Als Sohn des vermögenden Augustus Pemberton hätte er sich auch einfach auf dem Reichtum des Vaters ausruhen und den Luxus genießen können, doch Martin unterscheidet sich grundlegend von seinem Vater: Martin hat ein Gewissen.
Das Vermögen des Vaters basiert auf der Kunst, billig produzierte und mangelhafte Ware an möglichst viele Menschen zu verkaufen, ohne sich dessen zu schämen. Außerdem gehörten dem alten Pemberton Sklavenschiffe, mit denen er sich noch ein ordentliches Sümmchen dazuverdiente.
Alles in allem der blanke Horror für einen jungen Mann mit dem Herzen am rechten Fleck und Anlass genug, sich in Grund und Boden zu schämen für seinen Vater. Bereits früh ließ sich Martin daher enterben. Alles schien besser, als von diesem unmoralischen Vater abhängig sein zu müssen.
Und nun steht genau dieser aufrechte Kerl vor McIlvaine, dem Chefredakteur der New Yorker Zeitung „Telegram“, und erzählt ihm im Brustton der Überzeugung, dass sein verstorbener Vater noch lebt. McIlvaine nimmt ihn keine Sekunde lang ernst. Abgesehen davon, dass Martin ein cleverer Bursche ist, ist er nämlich auch dem Alkohol nicht abgeneigt – eine Erklärung für seine merkwürdigen Äußerungen ist also schnell gefunden.
Doch dann verschwindet Martin Pemberton von der Bildfläche und McIlvaine beginnt, sich Sorgen zu machen und sich zu fragen, ob sein freier Mitarbeiter nun den Verstand verloren hat oder ob hinter dieser absurden Behauptung vielleicht doch mehr steckt, als er bislang ahnte.
Die Stimme, die erzählt und den Leser durch die Geschichte trägt, gehört McIlvaine. Er ist der Ich-Erzähler, der das Geschehene mit größerem zeitlichen Abstand formuliert. Da er eine allwissende Position hat, den Ausgang der Geschichte bereits zu Beginn kennt, ihn aber nicht verrät, sind die Grenzen zum auktorialen Erzähler verwischt.
Doctorow lässt McIlvaine den Leser immer wieder direkt ansprechen, was ein interessanter Schachzug ist:
Und wenn Sie wissen wollen, ob jemand noch am Leben ist, was tun Sie dann? Sie gehen natürlich ins Leichenschauhaus. Ins Archiv.
Viele Sätze werden von Auslassungspunkten zerfetzt. Das verdeutlicht das Rohe, das Zögerliche, das Noch-nicht-Fertige – fast ein wenig, als wäre es gar keine Niederschrift sondern eine mündliche Berichterstattung, bei der der Erzähler, während er redet, noch überlegt, wie er das Kommende eigentlich ausdrücken soll.
Wenn Sie es sich recht überlegen, leben wir vorwiegend aus Gewohnheit weiter … wartend … aufrechterhalten von vorübergehenden Vergnügen … oder von Neugier … oder von diffusen verzweifelten Kräften … einschließlich der Bosheit … nicht aber von jener stärkenden Zukunftsvision, die sich nur in jener heimlichen Empfänglichkeit rührt, die jeder sehen kann außer den beiden, die sich töricht … anstarren.
Man ahnt, dass, wenn ich mich so früh schon auf formale Themen stürze, mich das Buch nicht sonderlich gefesselt haben kann. Sonst gäbe es andere Dinge zu berichten. Und in der Tat ist es so, ich habe mich schwer getan mit „Das Wasserwerk“.
Der Plot an sich ist spannend, keine Frage: Mitarbeiter verschwindet, Chef wird unruhig, forscht nach und stößt auf … eine Riesengeschichte. McIlvaine geht bei seiner Recherche akribisch und professionell vor, als wäre er ein Detektiv oder gar ein Polizist. Und tatsächlich holt er sich bei einem Gesetzeshüter namens Edmund Donne auch Hilfe bei seiner Suche nach Pemberton junior. Nach etwa einem Drittel des Romans fällt das erste Mal der Name Dr. Sartorius – der Arzt, der Augustus Pemberton zuletzt betreute und von dem seine (übrigens sehr junge) Witwe ein knappes Telegramm bekam, in dem er ihr den Tod ihres Mann mittteilte. Nach und nach wird klar, dass dieser Arzt der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist. Ein Mediziner, der sich im Bürgerkrieg verdient gemacht (er konnte rasend schnell amputieren, was ihm die Verletzten von Herzen dankten) und innovative neue Verfahren entwickelt hatte, die jedoch von seinen Medizinerkollegen des Ärzteverbandes skeptisch beäugt wurden.
McIlvaine und Donne machen sich auf, mehr über diesen ominösen Arzt herauszufinden. Rasch zeichnet sich das Bild eines skrupellosen Forschers ab, der im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht, um sein neues Projekt voranzubringen … Und so stoßen die beiden Spürnasen dann auch auf des Rätsels Lösung.
Vielleicht bin ich zu wenig „amerikanophil“, aber ich kann es nicht beschönigen: Mich haben die vielen ausführlichen Beschreibungen der amerikanischen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert, die Doctorow geschickt in seine Erzählung einflicht, nicht sonderlich gefesselt. Viele davon gibt es innerhalb dieses Romans, bei den meisten juckte es mich in den Fingern, einfach rasch vorwärtszublättern, da ich ein zu ungeduldiger Leser bin. Für meinen schlichten Geschmack hätte das Buch deutlich entschlackt werden dürfen, um die spannenden „Elemente des Detektiv- und Schauerromans“, wie sie so schön auf der letzten Umschlagsseite* genannt werden, etwas mehr in den Vordergrund zu bringen.
Und doch fallen mir ad hoc gleich 5 Leute in meinem Umfeld ein, von denen ich weiß, dass sie dieses Buch genau wegen dieser vielen Abschweifungen lieben werden. Doctorow versteht sich auf sein Handwerk, er kann fabulieren und formulieren, er hat gut recherchiert – und doch berühren mich seine Geschöpfe nicht, die Personen bleiben mir alle fern und fremd, sie kommen nicht an mich ran. Es liegt also weniger am Buch als an mir, dass das nicht so passte mit uns beiden.
* Der Verlag stellte mir freundlicherweise das im April neu erschienene eBook als Rezensionsexemplar zur Verfügung. Ich stellte jedoch wiedereinmal fest, dass ich mit eBooks nicht klarkomme und ich kaufte mir dann noch ein gebundenes, echtes, richtiges Exemplar des Titels. Daher die Umschlagsseite …