Rezension zu "Die geheimen Leben der Schneiderin" von Angelika Waldis
Jolie Hansen lebt ein sehr zurückgeuzogenes Leben. Das Tor zur Welt ist ihr kleines Schneideratelier und die Gespräche mit ihrer Kundschaft. In Gedanken blickt sie zurück auf ihre Kindheit mit 4 Geschwistern und das Familienleben, das mit dem Ertrinken des 17-jährigen Bruder Franz einen Knick erfahren hat. Jolie war damals 11 Jahre alt. Bis heute kann sie nicht recht glauben, dass Franz wirklich damals ertrunken ist. Sie hegt eine leise Hoffnung, dass er möglicherweise damals nur verschwunden ist.
Jolie heiratete, die Ehe mit Adrian ging allerdings bald in die Brüche und so war Jolie für ihre mittlerweile erwachsene Tochter Maxi viele Jahre selbst verantwortlich. Die Eltern von Jolie sind noch am Leben, den Vater erlebt Jolie "wie versteinert" und die Mutter ist mittlerweile an Demenz erkrankt, im Pflegeheim. Beide werden im Herbst 80 Jahre und Jolie hat die Idee, alle Geschwister und die Eltern zu einer Geburtstagsfeier einzuladen.
Das Buch ist haptisch wunderschön, im WUNDERRAUM-Verlag erschienen. Herausragend ist für mich die bildhafte Sprache von Angelika Waldis, z.B. S. 42: "Jolie hatte oft das Gefühl, das Denken finde ohne sie statt, sie stelle lediglich ihren Schädel als Konferenzraum zur Verfügung". So sitzen wir als Leser:innen quasi wie stille Zuhörerinnen in Jolies "Konferenzraum", blicken aus Jolies Sicht auf ihr Leben und das ihrer Geschwister. Ich hatte das Gefühl, dass die schüchterne Jolie sich ihre Welt in gewisser Weise zurechtbiegt. Sie bleibt in "ihrer Blase", "bleibt Woche für Woche in der lauwarmen Brühe der Gewohnheit sitzen ..." (S.98)
Am Ende bleit doch einiges offen. Die Faszination waren für mich die bildhaften Sätze, die bei mir innere Räume öffneten und eine wunderbare Sicht auf das Leben an sich werfen. "Manche Menschen laufen nicht in ihrem eigenen Körper herum, sondern in denen, die sie gerne hätten." (S. 9). Ein wunderbares Buch zum "eintauchen" und sich von Wortbildern verzaubern zu lassen.