Wagner erschüttert ein Glaubensfundament der deutschen (Berufs-)Bildung: Zertifikate als Zielmarke und Rahmen von Qualifikation und Kompetenznachweis. Ihre Analyse ist aufschlussreich und fesselnd; im Ausblick bleibt sie hinter dem eigenen Anspruch zurück.
Auf ein solches Buch haben wir, habe ich zumindest lange gewartet, denn der deutsche Glaube an Zertifikate bzw. unsere Form davon ist überlebt und wird zunehmend absurder in einer vernetzten globalen Welt. Dass hierzulande bei gravierendem Lehrermangel Unterrichtende mit Berufserfahrung aus Industrie und anderen Bereichen als Quereinsteiger-„Problem“ statt als Chance begriffen und behandelt werden, ist ein leuchtendes Beispiel dafür. Dazulernen muss jede und jeder, auch die Pädagog*innen, die schon vor 30 Jahren ihr exakt passendes Hochschuldiplom erworben haben.
Wer also etwas über die Zukunft der (beruflichen) Bildung wissen will, wird Anja Wagners Buch begierig aufschlagen. Und wird viel Spannendes erfahren: über die Genese und den aktuellen Stand von Bildungsstrukturen und Qualifikationsnachweisen. Darüber, wer von der schieren Unmöglichkeit, von dort weg zu denken und neue Wege der Kompetenzfeststellung einzuschlagen, profitiert. Und darüber, was jetzt zu tun ist, wohin es gehen sollte, um den Anschluss national und global nicht zu verlieren.
Wagners Buch ist, obwohl es sich explizit an Menschen in Berufsumbrüchen, an „Disruptierte“, wie sie sie nennt, wendet, ein wichtiger Aufruf in Richtung Politik, Bildungsinstitutionen, Kammern und Verbände. Zum Glück, denn eine Debatte über die Stagnation und Selbstbehinderung durch verknöcherte Strukturen der Zertifizierung tut dringend not. Die Autorin hätte hierbei bleiben und diesen Fokus – der hochaktuell und noch kaum öffentlich diskutiert ist – zum erklärten Ziel ihres Buchs machen sollen. Denn viel weniger wird dieses leider dem eigenen Anspruch gerecht, vor allem den „Disruptierten“ Perspektiven aufzuzeigen. Während Wagner im Bildungspolitischen und Strategischen genau, systematisch und komplex argumentiert, bleibt sie in der Konkretion „[f]ür die empowerten Menschen“ im Ungefähren und Eindimensionalen stecken. So ermutigt sie die im Vergleich zu mancher Branche digital längst fitten Arbeitnehmer*innen, den verknöcherten Apparat herkömmlicher Qualifikationsangebote und Bewerbungsverfahren hinter sich zu lassen, und verweist auf unzählige Jobs in der IT-Branche. Dabei verwechselt sie „digital versiert“ mit „digital interessiert“. Nicht jede oder jeder, der sich online perfekt aufgestellt hat und alle Tools, Plattformen und neuesten Trends beherrscht, hat Lust, in der Entwicklungswerkstatt dieses Bereichs zu arbeiten und die Handwerkszeuge zu programmieren. Die Perspektive für solche digital fitten, aber an anderen Arbeitsfeldern interessierten „Disruptierten“ bleibt Wagner schuldig. Doch gerade in jenen Arbeitsfeldern entfalten die von ihr so vortrefflich sezierten eingerosteten Strukturen ihre Macht.
Wagners Schlusskapitel „Ausblick“ und „Aufblick“ sind denn auch leider wenig mehr als Wiederholungen des Status Quo und der Forderungen aus den vorangegangenen Abschnitten „Rückblick“ und „Durchblick“. Das ist schade, denn es lenkt von den spannenden Fakten, scharfen Analysen und pointiert formulierten Zusammenhängen ab, die die ersten zwei Drittel dieses Fachbuchs instruktiv und sehr unterhaltsam zu lesen machen.
Das Büchlein ist eine spannende Lektüre für alle, die an Hintergründen und Klarheit über die aktuell nötigen Umwälzungen interessiert sind, gut weiterzugeben an Entscheidungsträger*innen, aber wenig konkret für Einzelne und in der zweiten Hälfte zunehmend redundant. Bildungspolitikern, -verwaltungen und -verbänden sind die ersten Kapitel jedoch unbedingt ans Herz zu legen.