Rezension zu "Dass der Kaffee nicht mehr schmeckt, ist mein kleinstes Problem" von Ann-Marlene Henning
Darum geht’s:
Die Therapeutin und Autorin Ann-Marlene Henning erkrankt an Corona und überlebt die Infektion nur um Haaresbreite. Ihre Zeit in Klinik und Reha und ihren Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben schildert sie in diesem Buch.
So fand ich’s:
Das Buch wird komplett aus der Perspektive von Ann-Marlene Henning erzählt.
Einerseits fand ich es eindringlich und sehr nachvollziehbar beschrieben, wie man als Patientin oft hilflos und schlecht informiert auf andere angewiesen ist und sich den Entscheidungen der Fachleute beugen muss. Wie man seine Bedürfnisse oft genug nicht so erfüllt bekommt, wie man es sich wünscht und braucht. Wie man fremdbestimmt und seinen Ängsten ausgeliefert ist. Besonders das, was Frau Henning trotz Koma von der Außenwelt mitbekommen und in ihre Angst-Träume eingebaut hat, fand ich interessant, wenn auch bedückend. Die Frage, was ein Komapatient von seiner Umwelt mitbekommt, beschäftigt ja viele und hier bekommt man einen guten Einblick einer Betroffenen, die ein künstliches Koma mit Beatmung überstanden hat.
Andererseits ist im Buch vieles bei dieser subjektiven und durchaus kritischen Erzählung belassen worden. Ich hätte mir dringend eine Ergänzung und Aufarbeitung gewünscht, wieso in mehr als einer Klinik / Reha so viele Dinge passieren, die man kritisieren musste. War und ist das üblich? Oder ein unglücklich gelaufener Einzelfall? Fehlt es an der Sensibilisierung des Personals? Liegt es am Personalmangel und Zeitdruck, daran, dass die Pflegenden schon bis auf die Knochen ausgelaugt sind?
Bei mir ist über große Teile des Buches der Eindruck entstanden, dass Frau Hennings Erwartungen an ihre Behandlung, im zwischenmenschlichen wie auch im medizinischen Sektor, sehr oft nicht erfüllt wurden. Ob die Erwartungen zu hoch geschraubt waren, ob sie aufgrund einer persönlichen Wahrnehmung falsch eingeschätzt wurden, ob tatsächlich zu wenig Wert auf Kommunikation mit den PatientInnen gelegt wird und überall so viele organisatorische Mängel existieren – und wieso – konnte ich aus dem Buch leider nicht herauslesen. “Dass der Kaffee nicht mehr schmeckt, ist mein kleinstes Problem” ist eben ein individueller und subjektiver Bericht, der einen berührt und mitfühlen lässt, der aber auch erst im letzten Drittel etwas mehr den Blick weitet und Dinge einordnet und bewertet.
Die im Klappentext angekündigten “medizinische Hintergründe und die aktuelle Studienlage” habe ich im letzten Drittel des Buches zwar schon gefunden, doch dieser Aspekt kam mir insgesamt zu kurz. Ich habe nur die eine Seite der Medaille erfahren, die mich emotional intensiv erreicht hat. Doch sie hat bei mir auch Wut erzeugt, die ich gerne durch den ärztlichen oder pflegerischen Blickwinkel oder eine etwas weiter gefasste (z. B. auf MitpatientInnen mit anderen Erfahrungen ausgedehnte) Perspektive wieder relativiert bekommen hätte.
So liest sich das Buch zum großen Teil wie eine persönliche Abrechnung mit ihrer schlecht gelaufenen Behandlung, die Frau Henning vielleicht Genugtuung verschafft, aber bei mir als Leserin nur die mit-erlebte Wut und Enttäuschung zurückließ. Der Untertitel “Leben mit Long Covid” führte mich etwas in die Irre. Richtiger wäre gewesen, “Meine Coronaerkrankung” oder ähnliches zu verwenden, denn das Buch handelt von der gesamten Coronaerkrankung, von dem Weg in die Klinik, dem immer schlechter werdenden Ggesundheitszustand, Koma und Beatmung, akuter Lebensgefahr und dem Kampf sowohl aus den aktuellen Krankheitssymptomen heraus als auch von dem Umgang mit bleibenden gesundheitlichen Folgen. Long Covid ist kein Schwerpunkt dieses Buches, auch wenn ich vor dem Lesen diesen Eindruck bekommen hatte.
Wer auf dir Suche nach einer individuellen, sehr persönlichen und emotional erzählten Coronaerfahrung mit einem schweren Verlauf ist, der wird hier genau das finden. Alleine durch das, was Ann-Marlene Henning erleben musste, wird man davon kuriert zu glauben, Corona wäre inzwischen immer ein Zuckerschlecken. Gerade jetzt mit dem bevorstehenden Herbst und der Coronamüdigkeit der Menschen ist so eine Erfahrung sicher aufrüttelnd und sollte einen wieder wachsamer machen. Lesenswert war das Buch also für mich ganz sicher, allerdings etwas anders, als ich das erwartet hatte.