Elena Sophie von Burow, wahlweise Effi oder Ella genannt, ist eine junge Frau aus gutem Hause im ausgehenden 19. Jahrhundert, einem Zeitalter des Patriarchats. Sie lebt in einem Mädchenpensionat und ihre einzige Aufgabe ist es zu lernen, eine wohlerzogene Dame und treusorgende Ehefrau zu werden. Doch bei einem Klassenausflug findet sie versteckt unter einem Stein ein wissenschaftliches Buch mit scheinbar skandalösem Inhalt. Als sie von ihrer Erzieherin mit diesem Buch erwischt wird, war’s das mit ihrer Ausbildung an der Schule für die höheren Töchter der Gesellschaft. Und das, obwohl Elena noch nicht einmal genau verstanden hat, worum es in dem Buch überhaupt geht. Man erklärt ihr nur, dass dessen Inhalt der weiblichen Gesundheit abträglich sei, dass es die „sexuelle Triebhaftigkeit“ fördern und zu Hysterie führen würde. Elena versteht nicht, warum es schädlich sein sollte, mehr über anatomische Unterschiede von Männern und Frauen oder auch den Liebesakt zu erfahren, und vor allem, warum Männer dies dürfen, Frauen aber nicht. Die kurze Antwort: Es schickt sich nun einmal nicht. Und so bleibt Elena dieses Wissen weiterhin verschlossen. Kurzerhand wird sie in den nächsten Zug nach Berlin gesteckt, der sie zurück zu ihrem Vater bringen wird. Auf der Fahrt trifft sie den jungen Arzt Maximilian von Waldau, der sie, ohne zu verstehen, worauf Elena eigentlich genau hinaus will, darin bestärkt, sich in allen möglichen Themengebieten Kenntnisse anzueignen. Als er jedoch später durchschaut, wovon Elena gesprochen hat, vertraut er sich seinem Arbeitgeber, dem praktizierenden Hals-Nasen-Ohren-Arzt Dr. Wilhelm Fließ an, welcher wiederum eng mit dem Psychoanalytiker Dr. Sigmund Freud vertraut ist und darum die Auffassung vertritt, dass Frauen mit dem Wissen um ihre eigenen Sexualität nicht umgehen können und man sie daher dringend davor bewahren muss, sich in diesem Bereich fortzubilden. Max, der seinen „Fehler“ Elena gegenüber unbedingt korrigieren will, gibt sich also größte Mühe, diese von ihrem Vorhaben, endlich an das sündige Buch zu kommen, abzubringen. Dabei tritt er nicht nur von einem Fettnäpfchen in das nächste, er droht auch, die zwischen ihnen wachsende Zuneigung für immer im Keim zu ersticken.
„Effi liest“ von Anna Moretti, welches auch unter dem Titel „Fräulein Ella und die Liebe“ erschienen ist, ist ein Roman, der nicht nur bei eingefleischten Feministinnen für senkrecht stehende Nackenhaare sorgen dürfte. Wüsste man als Leser*in - allein durch den Epilog - nicht, dass traurigerweise ein Teil der Handlung auf wahren Begebenheiten beruht, man würde sich totlachen über so viel Unwissenheit der Figuren. Oder zumindest dauerhaft mit dem Kopf schütteln. Eine Absurdität, die da von den männlichen als auch von vielen weiblichen Protagonisten vorgetragen wird, ist wilder als die nächste. Nun muss man die Geschichte aber im zeitlichen Kontext betrachten, dann versteht man nämlich, vor welchem Dilemma die Frauen dieser Zeit standen. Studieren, arbeiten oder sich politisch engagieren und mitreden wollen, das war selbst mit männlicher Erlaubnis oft undenkbar. Und dann auch noch sexuelle Aufklärung? Selbst das Betrachten des eigenen entblößten Fußknöchels galt in dieser prüden Zeit als nicht sittsam, Gott bewahre, wenn frau hätte erfahren wollen, was sie eigentlich in der Hochzeitsnacht erwartet. Genau vor diesem Hintergrund vergebe ich auch meine 4 Sterne für dieses Buch. Denn wir reden hier von einer Zeit, die gerade einmal 120 Jahre zurück liegt und doch aus heutiger Sicht eher an die Steinzeit als an das industrielle Zeitalter erinnert. Es ist gut, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass heutige Frauen ihre Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen Damen wie Elena von Burow - die allerdings keine reale Figur ist - verdanken können, die sich unermüdlich dafür eingesetzt und dafür auch viele Schwierigkeiten in Kauf genommen haben.
Ohne den eben erläuterten Hintergrund hätte dieses Buch maximal drei Sterne von mir bekommen. Denn die Liebesgeschichte hat mir leider gar nicht gefallen. Ich fand sie, nach allem was vorgefallen ist, einfach nicht glaubwürdig. Max war mir für sein Alter und seinen Bildungsgrad einfach zu naiv, zu blauäugig und zu unbeholfen. Selbst zur damaligen Zeit hätte so ein Mann eine Frau wie Elena eher nicht von sich überzeugen können. Elena jedoch, mit ihrem Ehrgeiz, ihrer Wissbegierde und ihrem Durchsetzungsvermögen war für mich eine äußerst überzeugende und auch liebenswerte Protagonistin. Die große Fehlannahme des Max von Waldau, weswegen Elena angeblich auf ihn auf eine bestimmte Art und Weise reagiert, war mit dem heutigen Wissen leider auch sehr schnell zu durchschauen, besonders für Menschen, die das gleiche Leiden wie Effi haben ;). Man sollte das Buch also nicht als Liebesgeschichte sondern eher als heiteren Historienroman mit einem ernsten, wahrem Hintergrund betrachten, dann wird man seine Freude daran haben und vor allem als Frau dankbar sein, im 21. Jahrhundert zu leben (auch, wenn heutzutage noch immer nicht alles perfekt ist).