Seit elf Jahren landet der älteste Bruder der 17jährigen Clare immer wieder im Gefängnis. Nun wird er mal wieder entlassen und schwört, wie immer, dass er diesmal alles anders machen wird. Doch warum wurde Luke überhaupt inhaftiert? Ist er wirklich jedesmal einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, wie ihre Eltern es ihr als Kind erzählt haben und später auch nie von der Geschichte abgewichen sind? Im Laufe des Sommers, in dem Clare eigentlich mit ihren Freunden Zeit verbringen und Geld für’s College zusammensparen will, und darüber hinaus wird sie mit den Taten ihres Bruders und ihrer komplizierten Familiengeschichte konfrontiert.
Ehrlicherweise war mir die Autorin, Anna Shinoda, lange Zeit nur als „Frau von“ ein Begriff, nämlich als die von Linkin Park-Gründer Mike Shinoda. Als ich hörte, dass sie einen Roman geschrieben hat und der auch noch ins Deutsche übersetzt worden ist, habe ich ihn gekauft (weil man das als Fan halt so macht) und erstmal schön liegengelassen (weil ich das meistens so mache).
Jetzt erst weiß ich, was für einen Kracher ich da ewig lang ignoriert habe.
Die Coming of Age-Story à la “Sommerferien, die dein Leben verändern“ mit unfairen Entscheidungen der Eltern, bedeutsamen Freund*innen und einem Hauch von „Mag er mich auch?“ erinnerte mich stark an die tollen Romane dieser Art von Sarah Dessen, geht aber noch ein bisschen mehr ins Eingemachte. Wir folgen der 17jährigen Clare im Hier und Jetzt und gehen wechselkapitelweise von der ersten Inhaftierung ihres ältesten Bruders, als sie sechs Jahre alt ist, chronologisch bis zum aktuellen Sommer. Clares Sicht, die sich in den Zwischenkapiteln vom kleinen Mädchen zum größeren Kind und schließlich zur Teenagerin immer weiter entwickelt, ist enorm stark beschrieben. Da mit ihr nie wirklich Klartext geredet wird und sie ihren 12 Jahre älteren Bruder von klein auf anhimmelt, geht ihr so spät erst ein Licht auf, was er wirklich für ein Mensch ist, und dass man nun mal nicht wegen irgendwelchen Verwechslungen immer und immer wieder im Gefängnis landet.
Auch die Beziehungen von Clare zu ihren Mitmenschen – ihrem Freundeskreis, dabei vor allem ihrer besten Freundin und deren Mutter, ihren Eltern und ihrem anderen Bruder – ist sehr realistisch und sehr intensiv beschrieben. Gerade ihre Eltern verhalten sich den beiden Kindern, die nie kriminell geworden sind, gegenüber häufig sehr unfair; ihre Mutter versteift sich auf den ältesten Sohn, was ich als Mutter einerseits bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen konnte, andererseits habe ich oft mit Clare mitgelitten.
Was ich anfangs als unnötig empfand, war ein Skelett, das Clare immer wieder sieht, wenn ihr etwas Unangenehmes oder Ungerechtes passiert oder sie ein schwieriges Gespräch führen muss, und das wenig subtil auf irgendetwas zeigt oder komische Verrenkungen macht. Aber selbst davon hatte mich die Autorin später noch überzeugt.
Fazit: „Die Mitte von allem“ wurde als bisher einziger Roman der Autorin vor 10 Jahren in den USA veröffentlicht und kam bereits ein Jahr später zu uns. Mit dem deutlich besseren Cover, übrigens. Ich wünschte inständig, Anna Shinoda würde noch ein Buch schreiben und noch eins und noch eins … sollte es aber für immer das einzige bleiben, dann wenigstens so eine starke, einfühlsame und perfekt geschriebene Geschichte. Natürlich vergebe ich 5*****.