Selten wird, was das Cover eines Buchs verspricht, von seinem Inhalt eingehalten. Bei Anne Levins "Refugium – Insel der Verlorenen" wird das Versprechen hingegen eingelöst. Ebenso nebelumhüllt wie das Cover präsentieren sich die ersten Seiten dieses Buchs. Gemeinsam mit dem zwölfjährigen Elaf watet der Leser durch den Nebel des Wattenmeers und wird mit einer mysteriösen Geschichte konfrontiert: einer geheimnisvollen Insel, auf der Seelen mittels einer magischen Glaskugel eingesperrt werden können, während ihre seelenlosen Körper an Land zurückkehren. So geschieht es auch der Seele von Elaf, die von der bösen Tante des Jungen dazu verdammt wird, auf der Insel zu bleiben.
Die Geschehnisse um Elaf wecken beim Leser das Bedürfnis, mehr zu erfahren über die nur schemenhaft skizzierten Figuren und das Geheimnis der Glaskugel. Doch Levin denkt nicht daran, dieses Bedürfnis schnell zu befriedigen. Nicht nur um die titelgebende Insel hebt sich der Nebel langsam, auch auf der Handlungsebene lichtet sich der Schleier des Geheimnisses rund um Elaf und seine Geschichte nur nach und nach. Und genau das macht den Reiz dieses Buchs aus, bei dem der Leser in jedem Kapitel mit Spannung nach weiteren Mosaiksteinen des Rätsels lechzt.
Nach der anfänglichen Erzählung rund um die Verbannung von Elafs Seele auf die Insel öffnet sich überraschend eine weitere Handlungsebene. Während die Ereignisse um Elaf "vor etwa 90 Jahren" stattfanden, befindet sich der Leser nun "viele Jahre später in einem Dorf in Norddeutschland". Dort lernt er zusammen mit dem Neuankömmling Tom das strenge Lehrpersonal der Schule kennen. Ein Klassenausflug führt Tom und seine Mitschüler in das Dorf an der Küste, in dem einst Elaf lebte. Noch immer verschwinden von dort Kinderseelen auf die geheimnisvolle Insel – auch die seiner Mitschüler. Gemeinsam arbeiten Tom und Elafs Geist daran, den Fluch zu brechen und die Seelen der Kinder zu befreien.
Levins "Refugium" lässt sich in keine der gängigen Genre-Schubladen stecken. Obwohl die zentralen Protagonisten des Buchs Kinder an der Schwelle zur Jugend sind, ist es kein Jugendbuch. Und obwohl es um eine mysteriöse Insel, körperlose Seelen und magische Objekte geht, ist es kein Fantasyroman aktueller Prägung, wo kaum eine Handlung ohne Dämonen und gefallene Engel auskommt. Levins Buch atmet vielmehr den Geist alter Spökenkieker-Erzählungen, die – vorgetragen am prasselnden Kamin einer reetgedeckten norddeutschen Kate – viele Jahrhunderte lang Groß und Klein mit sanftem Grusel die Ohren spitzen ließen, während die Welt draußen im Nebel der nahen See versank.
Ein Buch, das den Nordseeurlaub ersetzt.