Das Buch „Begegnung mit einer Vergessenen“ von Anne Schuster ist in deutscher Übersetzung 2008 bei kalliopepaperbacks verlegt worden. Ein Verlag, der sich klitzekleine Perlen der Literatur herauspickt.
Das Cover ist in dezentem Rosa gestaltet, welches den Blick auf ein offensichtliches Psychiatriebett lenkt – zu erkennen an den Fesselgurten.
Kurz vor der Jahrhundertwende (1874) liegt Maria stumm und gelähmt in der Psychiatrie und fragt sich selbst ob sie wohl ihren Mann getötet haben kann.
Anna Betrand 2004 in Kapstadt ist ihre Enkelin. Sie hat sich schon immer als heimliche Schriftstellerin verstanden und möchte über ihr Leben reflektieren. Ein Kurs „schreibe die Geschichte deines Lebens“ ist wohl Anlass zur Spurensuche einerseits – andererseits wohl auch der Grund für die eingestreuten Übungen zum autobiographischen Schreiben.
Maria teilt sich das Zimmer mit Dorothy Feather, die Tochter eines Kapstadter Arztes, der den Leiter der Einrichtung noch aus Londoner Studienzeiten kennt.
Dr. Feather hat sich aus den Londoner Slums nicht nur als Arzt emporgearbeitet sondern hat auch eine Adelige geheiratet. Als äußerst misogyner Mensch scheint er seine Familie schikaniert
und seine Töchter missbraucht zu haben. Diese Vermutung bestätigt sich mir im Verhalten von Dorothy nach dem Tode seiner Frau und im ärztlichen Attest zur Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Eine in damaligen Zeiten nicht unübliche Methode problematische Familienverhältnisse zu verschleiern – Freud hat Missbrauch ja auch eher als Penisneid interpretiert.
Dr. Feather ist ein seitens Marias Ehemann besonders geschätzter Gast des Hotels, seine besondere Rolle in diesem Roman wird auf den letzten Seiten geklärt.
Anna beginnt einen fiktiven Schriftwechsel mit Maria. Es zeigt sich, dass sie beide einige Gemeinsamkeiten haben. Das Aufbegehren gegen das enge gesellschaftliche Korsett, das sie in ihrer Entwicklung behindert sowie das Interesse an der Verbesserung der Lebensumstände von Sexarbeiterinnen. Im Kapstadt von 2004 dargestellt an einem Prozess um den Mord an einer Hure – der wohl auch in der Realität unendlich oft verschoben wurde, in den 1870ern eine Mordserie die an Prostituierten verübt wird. Auch lieben beide Frauen...
Marias Mutter, wohl eine Farbige, verstirbt als diese erst neun ist. Sie darf zwar noch weiter zu Schule gehen, das Lehrerstudium wird ihr jedoch verwehrt, sie muss mit 13 die Schule verlassen um ihrem Vater im Geschäft und Haushalt zu helfen. Das Ehemündigkeitsalter zu diesem Zeitpunkt ist 10 (!) Jahre.
Sie heiratet Traugott wohl auch deshalb um ein wenig Leben in ihr Vaterhaus zu bringen, welches sie als dunkel und zu still empfindet – im Gegensatz zum Haus ihrer Ouma wo immer buntes Treiben herrscht. Traugott jedoch, selbst durch seine Kindheit traumatisiert reduziert sie auf ein Dasein als Hausfrau, Ehefrau und vor allem Mutter. Rücksichtslos macht er ihr 6 Kinder obwohl er sehr gut weiß, dass er seine Frau damit in Lebensgefahr bringt und wirft ihr vor sich weiteren Kindern zu verweigern und somit seinem Recht als Ehemann.
Seinen Anfällen von Jähzorn entgeht sie teilweise durch Flucht zur Ouma, nach deren Tod durch Flucht ins Café Royal.
Anna erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend der 50er und 60er Jahre im Südafrika der Apartheid und erinnert sich der räumlichen Lebensstationen welche sie als unangepasster Teenager schließlich von Johannesburg nach Kapstadt geführt hat wo sie sich endlich zu einer selbstbewussten Frau entwickeln durfte. Sie benennt die Demos der 80er Jahre, die in der BRD gleichzusetzen sind mit Widerstand gegen AKW, Startbahn West, Häuserkampf in Berlin – in Südafrika aber wohl eher unter „Free Nelson Mandela“ gelaufen sein werden.
Die Emanzipation Marias wird ausgelöst durch den Mord an einer Prostituierten namens Emily, die zur Gründung der Women`s Union führt – auch in Europa beginnt zu dieser Zeit die Emanzipationsbewegung der Frauen, in Großbritannien z. B. mit den Sufragetten. Sie erfährt, dass es nicht nur Emily getroffen hat sondern dass es wohl eine ganze Mordserie an – bislang „nur“ farbigen – Huren gibt. Und sie macht es sich zur Aufgabe Prostituierte an einen – von Nonnen geleiteten – sicheren Ort zu begleiten. Die Arbeit als Hure war ja zumeist nur notgedrungen aufgenommen worden wenn eine andere Arbeit, z.B. als Wäscherin oder Dienstmädchen, nicht zur Verfügung stand.
Die Personen Anna und Maria werden durch verschiedene Schrifttypen getrennt sodass das Lesen sehr flüssig wird.
Da ich nur einen Roman lesen wollte hätte ich gern auf die eingestreuten Übungen zum autobiographischen Schreiben verzichtet, zumal diese sehr unruhig in gleich mehreren Schrifttypen gesetzt sind.
Eine beeindruckende Geschichte zweier starker Frauen, für die ich gern 4 Sterne vergebe.