“Können Sie nachweisen, dass Ihre Großeltern Franzosen waren?” Diese Frage, die heute sehr an eine dunkle Epoche der Zeitgeschichte erinnert, wird für die in den USA geborene Französin Anne Sinclair im Jahr 2010 zum Auslöser für die Reise in die eigene Vergangenheit. Nicht nur in die eigene, vielmehr in die ihres Großvaters Paul Rosenberg – seinerzeit einer der berühmtesten Kunsthändler der ganzen Welt. Nie wollte Sie sich mit der Vergangenheit der Ihren so intensiv beschäftigen, doch als sie mit den Recherchen begann, gab es bald kein “Entkommen” mehr. Sehr schnell versank sie in der Welt aus Kunst, Politik und Zeitgeschichte, der das Leben ihres Großvaters kennzeichnete.
Anne Sinclair öffnet das Familienarchiv und begibt sich auf die Reise an verschiedene Wohnorte und Plätze, die bezeichnend für das Leben ihres Großvaters waren.
Die erste Station ist dabei die Rue de la Boétie 21, die ehemalige erfolgreiche Galerie Rosenbergs in Paris. Welch schreckliche Ironie des Schicksals, die dazu führte, dass eben dort im Jahre 1940 das IEQJ (Institut für Studium der Judenfragen) eröffnet wurde – ein wahres Zentrum der antisemitischem Hetzpropaganda. Zu dieser Zeit war Paul Rosenberg schon ein aktiver Widerständler gegen den Verkauf “entarteter Kunst” durch die Deutschen und kam prompt auf deren schwarze Liste. Die Familie mietete ein Haus in Floirac, wo sie bis zur Ausreise ins Exil, Amerika, lebte.
Doch wer war der Mensch Paul Rosenberg? Begleiten wir Anne Sinclair durch ihre Recherchen, begegnet uns ein vielschichtiger Mann:
Der Mensch Paul:
Geboren a, 29.12.1881 in der Rue de Châteaudun in Paris, wuchs er auf als Sohn des Antiquitätenhändlers Alexandre Rosenberg und seiner Frau Mathilde Jellinek. Er wurde auf eigenen Wunsch Franzose, da man damals erst mit Erreichen der Volljährigkeit eingebürgert wurde. Im Jahre 1898 trat er ins Geschäft des Vaters ein und betrieb eifrige Kunststudien, bevor er seinen Weg in der Welt des Kunsthandels beschritt.
“War er zärtlich, war er fröhlich, dieser Großvater, der zuerst Vater gewesen war, ein Papa, der sich nie so nennen lassen wollte und von seinen Kindern verlangte, dass sie ihn Paul nannten? Das schockierte die sanfte Marguérite Blanchot, die fünfzig Jahre lang bei meinen Großeltern beschäftigt war. Sie sagte immer: “Die Leute werden noch denken, dass Monsieur nicht der Vater der Kinder ist!” Paul war tatsächlich ein ängstlicher und schamhafter, zurückhaltender Vater, der sich seiner geliebten Tochter eher in Briefen als in Gesprächen öffnete.”
Ein Mensch mit tausend Facetten: Anne vermutet hinter Paul einen heiteren Charakter mit fröhlichen Zügen, der andererseits eine nüchterne, asketische bis düstere gequälte Art nach außen zeigt. Er litt furchtbar darunter, nur der Vermittler und nicht der Schöpfer von Kunst zu sein. Fremde und Bekannte beschrieben Paul als feurig, elegant, tatkräftig und hartnäckig mit einem exzellenten Auge und besten Beziehungen in der feinen Gesellschaft. In Kunstkreisen galt er als “gewiefter, geschmackssicherer Kunsthändler” mit scharfsinnigen Ratschlägen und einem top Instinkt, dessen er sich auch stets bewusst war. Ein Beispiel dafür zeigt folgende Anekdote aus Pauls Leben. Er sendete seinen Sohn nach Paris um an einer Versteigerung teilzunehmen und gab ihm folgende Anweisung, die nur auf den Katalogabbildungen der Bilder basieren:
“”Der Renoir mit der Nummer 27 ist nicht interessant. Nummer 32, der Vuillard ist wirklich ein kleines Meisterwerk. Du kannst ihn kaufen. Der Bonnard, Nummer 82, ist nicht schlecht, aber etwas früh. Bei dem Modigliani, Nummer 91, bin ich nicht sicher, ob er echt ist, und die Nummer 95, den Renoir, auf keinen Fall kaufen, das Bild ist zu bekannt, vollständig retuschiert und schon überall auf dem Markt angeboten worden.” Für einen geschwächten alten Mann, der die Bilder lediglich in einer Broschüre sieht, sind diese Ratschläge erstaunlich scharfsinnig…”
Der Händler Paul:
In jungen Jahren noch von einem ambivalenten Verhältnis zum Beruf der Händler geprägt, entwickelte er nach und nach eine große Leidenschaft für die moderne Malerei und begann, Bilder aus dem 19. Jahrhundert zu verkaufen, um welche aus dem 20. Jahrhundert erwerben zu können. Besonders nach dem 2. Weltkrieg wurde er berühmt für seine Kenntnisse in diesem Bereich und begann, diese Kunst den Amerikanern nahezubringen. Er schenkte den amerikanischen Museen viele Bilder – nicht zuletzt als Dank für das Asyl, welches ihm und seiner Familie nicht zuletzt durch die Hilfe des MOMA Direktors Alfred Barr ermöglicht wurde. Bis zum Zweiten Weltkrieg galt Paul in den USA als der größte Kunsthändler Europas. Auch nach dem Krieg blieb er aktiv und kämpfte für die Wiederbeschaffung der von den Nazis geraubten Werke.
Der Politiker Paul:
Paul kämpfte von Beginn an intensiv gegen die faschistischen Ideen , die ganz Europa vergifteten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er zu einem eisernen Verfechter des kämpferischen Gaullismus und war stets empört über Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen zwischen den Menschen.
Der Künstlerfreund Paul:
Während seiner gesamten Schaffenszeit und auch darüber hinaus pflegte Paul intensive Freundschaften zu seinen Künstlern wie Braque, Matisse und insbesondere zu Picasso. Er begleitete die Künstler durch ihre Schaffensphasen, unterstütze sie großzügig und half ihnen auch nicht wenig bei der persönlichen Entwicklung. Er klammerte sich an seine Freunde in litt sehr darunter, wenn diese nicht ausreichend Zeit für ihm aufbrachten oder wenn sich die Freundschaft in andere Wege entwickelte, was diese Auszüge aus Briefen an Pic (Picasso) zeigen:
“”Es sind jetzt acht Tage, dass wir sie nicht gesehen haben. Ich bin unruhig und meine Freundschaft leidet darunter.” [...]. “Ich sehe Ihre geschlossenen Fensterläden, das ist traurig” [...]. “Ihre Bilder hängen an meinen Wänden und Ihr tägliches Kommen fehlt mir.”"
Das Exil:
1940 heiß es dann endgültig Abschied nehmen von Paris und im September des Jahres kam die Familie Rosenberg in New York an. Für Paul eine schwere Zeit, vermisste er Paris, die Freunde und die Kunst so sehr. Er hatte kaum Kontakt in die Heimat und fühlte sich ohnmächtig und hilflos. 1941 eröffnete er dann eine neue Galerie in der 57. Straße, die 13 Jahre später in die 79. Straße umzog und dann mehr und mehr unter der Leitung seines Sohnes Alexandre stand, da Paul schon älter und sehr geschwächt war.
All dies sind nur Bruchstücke des Werkes, welches Anne Sinclair ihrem Großvater gewidmet hat und es ist jedem Kunstfreund nahezulegen, dieses zu lesen. Anne Sinclair entführt den Leser auf eine Reise in die Vergangenheit. In ihre Vergangenheit, in die des Großvaters – eines einzigartigen und bewundernswerten Mannes, in eine Welt der Kunst. In die Welt der Kunst, die über sachliche Beschreibungen und Bildkataloge hinausgeht. In eine greifbare Welt nämlich, in der man die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Freundschaft, Schaffenskrisen, Erfolge, die gegenseitige Unterstützung und die Gefühle nahezu spürbar vermittelt bekommt. Man taucht tief ein in diese persönliche Sphäre, die so lange verschlossen blieb und man muss fast ein wenig dankbar dafür sein, dass die Nationalität Sinclairs und ihrer Familie infrage gestellt wurde. Denn wer weiß, wäre dies nicht passiert, hätte sie sich womöglich nie auf die Reise ins Familienarchiv begeben und dieses wundervolle Werk würde nicht existieren. Für mich ein absolutes Herzensbuch, welches einen besonderen Platz behalten wird.