Familie Garrett gehört zu den Familien, die eher eine „lose Ansammlung“ von Individuen darstellt als eine gestandene Einheit. „Der Unterschied zwischen dieser Szene und den Szenen in den französischen Gemälden lag darin, dass die Menschen auf den Bildern bei gemeinsamen Unternehmungen dargestellt waren, bei Picknicks oder Bootsfahrten, währen hier jeder für sich blieb, dachte Alice. Selbst ihr Vater, der nur wenige Meter von ihr entfernt war, schwamm jetzt wieder zum Ufer. Ein Passant hätte niemals gedacht, dass sich die Garretts überhaupt kannten, so allein und weit voneinander entfernt wirkten sie.“ (S. 43)
Anne Tyler schreibt in ihrem neuesten Werk über mehrere Generationen der Familie Garrett, eine schon fast als „langweilig“ zu bezeichnende amerikanische Mittelstandsfamilie.
Im Fokus stehen der praktisch veranlagte, dafür eher schweigsame Robin und seine quirlige Ehefrau Mercy, die sich bis zu ihrem Auszug um die drei gemeinsamen Kinder Alice, Lily und David gekümmert hat und dann ihre Chance gekommen sieht, sich endlich selbst entfalten zu können: sie beginnt, auftragsmäßig Häuser zu malen.
Doch es sind keine gewöhnlichen Bilder. „Robbys Bettchen war nur als eine Reihe skizzenhafter senkrechter Striche dargestellt, doch der Flickenteppich, auf dem er stand, war so detailliert gemalt, dass man in einem der Stoffstreifen das Rosenmuster von Mercys altem Sommerkleid erkennen konnte. ‚Ihre Bilder sind wirklich ungewöhnlich‘, sagte Evelyn fast seufzend. ‚Haben Sie schon mal versucht, das ganze Bild in allen Einzelheiten zu malen statt nur einen bestimmten Teil?‘, fragte Clarence. ‚Ja, natürlich, aber das kann jeder. Mir geht es um etwas Tieferes. Ich konzentriere mich auf ein einzelnes Merkmal, das die Seele des Hauses enthüllt.‘“ (S. 123)
So wie Mercy malt, so schreibt Anne Tyler. Sie konzentriert sich auf einzelne Aspekte: die Figuren haben fast karikaturhaft herausgearbeitete Charaktermerkmale, die Jahrzehnte umspannende Familiengeschichte beschränkt sich auf die Schilderung einiger Treffen und gemeinsamer Erlebnisse. Was dahinter, davor oder darunter verborgen liegt, das wird oft nur angedeutet.
Aufgrund der oberflächlich erscheinenden Handlungen (in denen es unter anderem darum geht, dass David lieber mit Puppen Veterinär spielt und Lieder singt, als Schwimmen zu lernen, um eine Pflegekatze in Mercys Atelier, um Lachsauflauf und Champagnerflöten, um den neuesten Klatsch von Cousins und Tanten…) läuft man schnell in Gefahr, diese vielen Andeutungen zu überlesen. Doch spätestens gegen Ende des Buches, wenn David sich um seinen eigenen Enkel kümmert, werden diese Ereignisse verflochten und man erkennt deren Bildhaftigkeit. „‘… Emily hatte solche Zöpfe. Jeweils ein dünner, straff gezogener Strang oben über der Schläfe, nach unten hin mit zwei dickeren Strähnen verflochten.‘ ‚Ach so, du meinst französische Zöpfe.‘ ‚Genau. Und wenn sie die Zöpfe gelöst hat, waren ihre Haare noch stundenlang gewellt, sie hatten so kleine Kringel.‘ ‚Ja…‘ ‚Mit der Familie ist es genauso. Man denkt, man wäre frei von ihr, aber man ist nie wirklich frei davon. Die Wellen sind für immer eingeprägt.‘“ (S. 336)
Das große Plus dieses Buches ist sein Wiedererkennungswert und seine Nahbarkeit. Wer in den vielen Figuren nicht einen Krümel von sich selbst entdeckt, wird wenigstens seine eigenen Verwandten oder Bekannten irgendwo finden. Es menschelt durch und durch.
Die Herausforderung dieser Lektüre besteht nicht aus verschachtelten Sätzen, sondern im Füllen der Lücken. Es benötigt Konzentration, zwischen Zeitsprüngen und (teilweise nicht eingeführten) Figuren den Überblick zu behalten und hier dann auch noch die Entwicklungen nachvollziehen zu können.
Anne Tyler schildert die Alltäglichkeiten einer Normalfamilie lebendig und liebevoll. Nicht alles hat mich gleichermaßen interessiert und in den Bann ziehen können, doch ich empfand diesen Roman als wohltuenden Ausgleich in einer Literaturwelt, die ihre Tiefgründigkeit so oft aus der Ab- und Andersartigkeit zieht, dass irgendwann das scheinbar Gewöhnliche heraussticht.