Madeleine Claeys hat klare Vorstellungen. Ihr Bruder ist gestorben. Einst wurde sie von ihrer Mutter beschuldigt, für dessen Zustand verantwortlich zu sein. Sein ehemaliges Zimmer muss jetzt renoviert werden. Jenes "eingefrorene Kinderzimmer aus einem anderen Zeitalter, strahlend vor wöchentlich gereinigter Nichtbenutzung". Alles muss verändert werden, von den Fußleisten bis zu den Fensterrahmen.
Den Auftrag dazu erhält Alphonse, ein senegalesischer Musiker. Mit seiner Brüsseler Freundin Kat ist er in ein kleines Dorf im flämischen Flachland gezogen, um sich dort eine Existenz aufzubauen. Er renoviert mit Sorgfalt alte Häuser und wie von selbst ergibt sich eine weitere, jedoch unbezahlte, Dienstleistung, die sich aus seiner besonderen Fähigkeit ergibt. Alphonse ist es gegeben, besonders gut zuhören zu können.
Diese Gabe nutzen seine Kunden für ihre jeweiligen "Herzensergüsse" oft und gerne, zumal er sogar im einen oder anderen Fall spontane Lösungen anzubieten hat oder diese zumindest anregt. So auch für Madeleine Claeys. Hinter den Fußleisten entdeckt er alte Briefe, deren Inhalt ihn zunächst nicht besonders interessiert. Jedenfalls bis die Hausbesitzerin wünscht, er solle sie lesen ...
"Dreißig Tage" wird auf keiner der üblichen Bestsellerlisten erscheinen. Dazu ist der Roman viel zu gut, die Themen aber zu unpopulär. Schon schlimm genug, wenn die Hauptpersonen, in völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen aufgewachsen, massive private Probleme entwickeln. Annelies Verbeke deckt zudem zwischenmenschliche Tragödien in weit größerem Umfang auf. Man erkennt sie meist nicht, denn alltägliches Einerlei und die unumgängliche Schönfärberei übermalen das Elend, selbst in unmittelbarer Nachbarschaft. Zu allem Überfluss gesellt sich dann noch handfeste Flüchtlingsproblematik.
Schade, wenn man sich davon abschrecken lässt, denn allein der sprachliche Reichtum des Buches reicht für eine Sammlung Loblieder. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Fast auf jeder Seite möchte man den Rückwärtsgang einlegen, um die Beschreibung von Land und Leuten nochmals zu verinnerlichen. Leider erzeugen die Andeutungen des Klappentextes sowie der geschickt kaschierte Spannungsbogen der Autorin selbst einen gewissen Erwartungsdruck. Um zu erfahren, wie sich das entwickelt und wie es ausgeht, möchte man das Lesetempo beschleunigen. Davon ist aber dringend abzuraten. Man könnte hochkarätige musikalische Verweise abenteuerlicher Bandbreite (Dizzy Gillespie, Alpha Blondy, Seydina Insa Wade, Liszt ...) übersehen, ebenso berauschende Landschaftsbeschreibungen und andere Nebensächlichkeiten wie das Hüpfen der Vögel (!) und überhaupt all die wunderbaren, teilweise radikal schrägen, Charaktere der ganz hervorragend besetzten Nebenrollen.
Der Autorin scheint nichts zu entgehen. Was allzu leicht übersehen wird, kann hier nachgelesen werden. Alphonse wundert sich, "dass die meisten Menschen in der Mehrzahl über hypothetische Kinder reden, als träten diese grundsätzlich als Gruppe in Erscheinung". Die Ambivalenz einer Nachbarin gibt ihm noch weitaus größere Rätsel auf: "Manchmal denke ich, die Natur macht, dass ich mich in Menschen verliebe, um zu verhindern, dass ich sie ermorde."
Mit ebenso bizarrem wie pechschwarzem Humor geizt Annelies Verbeke ebenfalls nicht, wobei der Hund, dessen Aussehen "an einen Hardrocker aus den späten Siebzigerjahren" erinnert, eine Kuh, die denken kann, oder das "fanatische Verfertigen von Blumentopfhaltern aus Makramee" noch die harmlosen Varianten darstellen.
Phantasiebeladene Beschreibungen körperlicher Nähe und Sexualität spotten jeder Belanglosigkeit und stehen wiederum im krassen Widerspruch zu abgründigem gesellschaftlichem Spießertum, welches eigene Probleme nach außen stülpt und Erlösung in der Projektion auf andere sucht. Und wehe, sie konzentriert sich auf einen, der irgendwie immer und trotz alledem nur das Gute in seinen Mitmenschen sehen möchte. Alphonse, der "Magnet für alle Gestörten": Die Hauptthematik. Unsichtbare Abgründe, jetzt lesbar.
Im Rausch der Worte glaubt man sich fern des Gewöhnlichen und befindet sich doch mitten darin. Ein literarisches Fest, wenn auch mit dunklem Ausgang. Ein unerschütterlicher Optimist geht seinen Weg, auch wenn sich alles und jeder gegen ihn wendet. Einer der das Leben liebt, findet selbst dann noch Worte des Ausgleichs. Großartig!
Annelies Verbeke
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Meine Meinung
Wir lernen Alphonse kennen, einen Mann mit senegalesischen Wurzeln, der im Alltag mit seiner Freundin Kat aufgrund seiner dunklen Hautfarbe oft rassistisch angegangen wird. Er kennt es, er erduldet es stoisch aber es lässt sein Blut kochen und in wütend werden. Auch in dem kleinen Dorf, in das sie vor Kurzem gezogen sind, gehört Rassismus in verschiedenen Formen und Ausprägungen zu seinem Alltag. Doch seit der großen Flüchtlingswelle, die sich auch auf Syrer ausgeweitet hat, ist die Ablehnung größer geworden. Jeder ausländisch aussehende Mensch ist ein potentieller Flüchtling. So wird Alphonse häufig erst auf Englisch angesprochen oder die Menschen wechseln im Laufe des Gesprächs mit ihm immer wieder ins Englische, er erhält Auftragsabsagen sobald klar ist, dass er schwarz ist oder die Leute verstummen, wenn er eine Bar / ein Restaurant betritt.
Alphonse hat eine sehr offene und angenehme Art, sodass die Menschen, für die er Maler- oder auch handwerkliche Arbeiten im Hause ausführt, ihn als Kummerkasten benutzen und ihm viel Privates anvertrauen. Dieses Wissen verwicklt ihn manchmal in unangenehme Situationen, wenn er dann zufällig beim Einkaufen auf Kunden trifft, von denen er z.B. weiß, dass sie Fremdgehen.
Dreißig Tage im Count-down begleiten wir so Alphonse durch seinen Alltag und sein Leben. Dabei lernen wir seinen alten Nachbarn Willem kennen, der alles über den Ersten Weltkrieg und auch senegalesische Soldaten und Friedhöfe in Flandern weiß und Alphonse und Kat darüber aufklärt. Wir sind dabei, wenn seine alte Freundschaft zu seinem Freund Amadou wieder auflebt und auch, wenn die Ärztin Brigitte und ihr Sohn Hadrianus ihn zum inoffiziellen Flüchtlingslager am Rande des Dorfes begleiten, den Flüchtlingen medizinisch helfen, sie aber auch mit Lebensmitteln versorgen. Sie sind hier nur auf Zwischenstopp. Ihr großes Ziel ist es mit einem LKW von Calais nach Großbritannien zu gelangen, doch diese Überfahrt ist lebensgefährlich. Erwünscht sind sie nirgendwo, auch nicht hier in Belgien. Einige Dorfbewohner stehen ihnen feindlich gegenüber.
Annelies Verbeke hat mit ihrem Roman ein Potpourri an Figuren und Situationen erschaffen, dessen Verbindung Alphons ist, dem sein einst einfaches und ruhiges Dorfleben, psychisch irgendwie über den Kopf wächst und er sich so langsam ausgelaugt fühlt. Der Wunsch hier wieder wegzuziehen festigt sich.
Auch wenn das Ende nicht überraschend ist, traf es mich dennoch, weil es so traurig und tragisch zugleich ist. Intensiv wird man in die letzten Zeilen des Buches gezogen.
Obwohl mir das Buch, das durch eine schöne und etwas gehobenere Sprache besticht, mir sehr gut gefallen hat, fühlte ich mich nicht ganz abgeholt. Die Autorin schaffte es nicht die Distanz zwischen mir als Leserin und Alphonse sowie den anderen Figuren zu überwinden. Ich fühlte mich das ganze Buch über als Zuschauerin am Rande und nicht mit dabei. Ich staunte über viel Skurriles, das mich auch lächeln ließ, mir jedoch bei den wichtigen Punkten nicht genug Empathie hervorlocken konnte. Dafür war ich zu sehr außen vor.
Für meinen persönlichen Geschmack hatte dieser Gegenwartsroman zu viele Situationen, die sich im Schlafzimmer abspielten und Zustände sowie Positionen von Geschlechtsorganen beschrieb. Zudem hätte ich auf die erotische Kurzgeschichte der Autorin im Buch sehr gut verzichten können. Das gehört zu den Themen, die mich bei zu vielen Wiederholungen, anfangen zu langweilen.
Fazit
Ein ganz toller Roman, den ich trotz meiner Kritikpunkte weiterempfehle. Der Aufbau der Geschichte ist gut gewählt, die Figuren interessant und nicht abgedroschen. Annelies Verbeke gelingt es, das Thema (Alltags-)Rassismus so leicht und intensiv zugleich darzustellen, ohne dass es aufdringlich wirkt. Und dann kommt zum Ende hin ganz schleichend der Schlag, den man zwar kommen sieht, aber nicht so und auch nicht in dieser Art. Einfach tragisch und doch so alltäglich, wenn man hin und wieder Nachrichten liest. Ein aktuelles Buch, das leider wohl noch lange Zeit sehr aktuell bleiben wird.
Alphonse ist 40 und eigentlich Musiker. Warum es mit der Musik nicht so recht geklappt hat, erzählt uns Annelies Verbeke in ihrem Roman „Dreissig Tage“ nicht genauer. Aber Alphonse ist mit seinem neuen Job ganz zufrieden. Er renoviert Häuser und Wohnungen, mal ein neuer Fußboden hier, mal ein neuer Anstrich dort. Über mangelnde Angebote muss er sich nicht beklagen. Das liegt nicht nur an seiner Fachkenntnis und Zuverlässigkeit, sondern auch an einer ganz persönlichen Tugend: Alphonse versteht es zuzuhören und Zuversicht auszustrahlen. Mit seiner gutmütigen, den Menschen zugewandten Art öffnet er die Herzen seiner Kunden. Und bekommt so die absonderlichsten Geschichten erzählt.
Da sind die beiden verfeindeten Nachbarspaare, die sich gegenseitig den unglaublichsten Verdächtigungen aussetzen, dabei sind die beiden halbwüchsigen Töchter beste Freundinnen, und auch die Eltern stehen sich nicht so fern wie vermutet. Oder die ältere Dame, die einst als Kind ihren Babybruder fallen lassen hat, und ihn noch heute in seinem einstigen Zimmer schreien hört. Die Autorin, die erotische Geschichten schreibt oder der Übersetzer, der eine allzu starke Liebe zu Schmetterlingen hegt. Und da ist noch Marco, der um seinen langjährigen Lebenspartner trauert, der ihn wegen eines Anderen verlassen hat, und sich um seinen Nachbarn Gewijde sorgt. Dieser ist, seitdem er als Junge missbraucht worden ist, „ein wenig aus dem Lot“. Schließlich ist da noch Alphonses eigener Nachbar, der alte Willem, dessen Frau unlängst gestorben ist, und der mit seiner merkwürdigen Leidenschaft für den Ersten Weltkrieg und besonders für dessen Kriegsgräber und die „Senegalschützen“ Aufmerksamkeit verlangt.
Für Alphonses Frau Kat sind das viel zu viele Forderungen, die an ihn gestellt werden. Die Menschen saugten ihn aus, für sie bliebe viel zu wenig Raum. Dabei ist Alphonse ein glücklicher Mensch, scheint es. Er hat eine äußerst positive Lebenseinstellung, viel Empathie und viel guten Willen.
Nur eine Sache bringt ihn gelegentlich gehörig auf, und zwar, wenn er sich selbst grundlosen Anfeindungen gegenüber sieht. Und das kommt gar nicht so selten vor, denn Alphonse stammt aus Afrika, aus dem Senegal. Und rassistische Gesinnungen gibt es auch in Westflandern, wo er mit Kat ein kleines Haus auf dem Land bewohnt. Besonders seit der großen Fluchtwelle, seitdem neben Afrikanern auch zunehmend Syrer in der Hoffnung auf Asyl oder die Flucht über den Ärmelkanal nach Großbritannien ihre Zelte aufschlagen und es auch unter den beiden Gruppen zu Spannungen kommt.
Wir Leser*innen dürfen Alphonse über die besagten „Dreissig Tage“ mit Annelies Verbeke begleiten, in einem Countdown. Wir fahren mit ihm zur Arbeit, lauschen den Geschichten seiner Kunden, teilen seine Zeit mit Kat, sind dabei, wenn er mit der Ärztin Brigitte Hilfsgüter zu den Flüchtlingen bringt, wenn er seinen Freund Amadou nach vielen Jahren wiedertrifft und teilen seine Liebe zum stürmischen Portugiesischen Wasserhund Björn. Lauter kleine Dinge. Aber wie heißt es im Roman:
„Weil so wenig passiert, bekommt alles, was tatsächlich passiert, eine wunderliche Aura, es verlangt nach einer schärferen Aufmerksamkeit.“
Dabei geschieht so einiges im Roman. Es wird nur so ruhig und entspannt erzählt wie man sich Alphonses Gemüt vorstellen mag. Manchmal ist die Situation oder Geschichte gar zu absonderlich, manchmal, denkt man, geradezu banal, aber schon sehr bald merkt man, dass sich Alphonse und die anderen Charaktere bereits ins Herz der Leser*in geschlichen haben und dass man sie gerne noch eine Weile begleiten möchte. Deshalb kommt der letzte Tag überraschend, vielleicht vorhersehbar, aber doch unerwartet. Und wieder einmal steht man ungläubig und erschüttert vor den Abgründen, die sich in der menschlichen Gesellschaft auftun.
Annelies Verbeke ist ein schöner Roman über Mitmenschlichkeit und Unmenschlichkeit, Liebe und Hass, Zuversicht und Verzweiflung gelungen.
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