Gisèle, 1912 geboren, wächst in einer niederländisch-österreichischen Familie auf, in der der gesellschaftliche Stand und ein streng katholischer Glaube die bestimmenden Kräfte sind. Doch Gisèle zeigt früh rebellische Züge. Ihr Studentenleben in Paris genießt sie ausschweifend und in jeder Hinsicht leidenschaftlich. In den Niederlanden, wo sie schließlich eine Ausbildung zur Glasmalerin absolviert, verkehrt sie in liberalen Künstlerkreisen. So lernt sie auch den charismatischen deutschen Schriftsteller Wolfgang Frommel kennen. Eine schicksalhafte Begegnung.
Als 1942 die Deportation von niederländischen Juden beginnt, gewährt sie Frommel mit zunächst zwei jüdischen Jungen Schutz in ihrer Wohnung und rettet ihnen somit das Leben.
Unter der Führung Frommels entsteht dort eine Art Männerbund nach dem Vorbild Stefan Georges, das Castrum Peregrini. Es ist eine nach außen hin abgedichtete Gemeinschaft mit Geheimhaltungsgebot und weiteren sektenartigen Zügen. Die von Frommel auserwählten jungen Männer widmen sich dem Lesen, Übersetzen und Schreiben von Gedichten.
Wie gerne Gisele dazugehört hätte! Doch war sie als Frau – jedoch nicht als finanzielle Geberin – dort unerwünscht und von den rituellen Freundesfeiern ausgeschlossen. Denn Frauen waren laut Frommels Lehre ein Hindernis auf dem Weg zum Höheren.
Heute weiß man, dass Frommels pädagogische Bemühungen von sexuellem Eigeninteresse durchdrungen waren und deutlich päderastische Züge trugen. Missbrauchsvorwürfe rund um das Castrum Peregrini sind inzwischen laut geworden.
Warum ignorierte Gisèle die Warnungen ihrer Familie und alten Freunde und blieb zeitlebens so eng mit der Gemeinschaft verbunden? Annet Mooij meint, dass Gisèle ergriffen von Frommels Charisma und dem Ideal einer ewigen, in den Kriegsjahren verwurzelten Schicksalsverbundenheit, sich in voller Treuherzigkeit mit dem Castrum Peregrini verbunden hatte.
So setzte Gisèle auch in ihren letzten Lebensjahren eine immense Energie daran, ihr aus etlichen Briefen und Dokumenten bestehendes Archiv so zu organisieren, dass eine Biografie geschrieben werden konnte, die ihr gefiel.
Unangenehme Dinge und schlechte Erfahrungen sollten darin keinen Platz finden und Gewöhnliches wurde zum Außergewöhnlichen erhoben. Sie hübschte gezielt ihre Wirklichkeit auf.
Mooij blickt kritisch hinter die märchenartige Fassade und leistet mit "Das Jahrhundert der Gisèle" eine intensiv recherchierte Rekonstruktion eines ereignisreichen Lebens und einer schwer fassbaren, faszinierenden Frau, die stets ihren eigenen Weg gewählt hatte. Gleichzeitig klärt sie über die Geschichte des Castrum Peregrinis auf. Dabei klagt sie nicht an, sondern lässt es für den Leser offen, inwieweit sich Gisèle – wenn auch unabsichtlich – durch ihre Eigenart Schlechtes auszublenden, an dem Leid beteiligt hat, das Frommel seinen Schülern zufügte. Sehr aufschlussreich fand ich beim Lesen die Schilderung ihrer auch stark von Einsamkeit geprägten Kindheits- und Jugendjahre, die einem zu verstehen helfen, warum Gisèle so geworden ist, wie sie letztendlich war.
Im Ergebnis ist Mooijs Werk eine Biografie, die Gisèle vermutlich nicht gefallen hätte...
Mythos und Wirklichkeit einer Künstlerin