Cover des Buches Die Judenbuche (ISBN: 9783866470507)
Rezension zu Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff

Rezension zu "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 14 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 14 Jahren
Wie und weshalb ein Buch zur klassischen deutschen Literatur oder vielleicht sogar zur Weltliteratur wird, lässt sich oft nur schwer nachvollziehen. Oft entscheidet erst die Zukunft darüber, welches Werk es verdient, im Gedächtnis-Kanon konserviert zu werden. Oft erscheint dem einen ein Kriterium für die Einstufung als klassische Literatur als ungeeignet, als unbrauchbar, als banal, als Heiterkeit erregend oder gar als läppisch, während der andere mit aller Ernstlichkeit daran festhält. Eine weitere Frage ist, ob ein Werk, das einmal die Weihen als „große“ Literatur erhalten hat, auf ewig sakrosankt bleiben muss. Gedanken dieser Art beschäftigten mich, als ich nach einigen Jahrzehnten wieder Die Judenbuche von Annette Freiin von Droste-Hülshoff in die Hand bekam. - Eine Sittengeschichte aus dem gebirgigen Westfalen, wie der Untertitel lautet, erhebt nun natürlich nicht den Anspruch, ein Geschichtswerk zu sein, sondern will eine kleine Geschichte wiedergeben, die seinerzeit Aufsehen erregte. Schon aus diesem Grunde war der Novelle daher vermutlich von Anfang an eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit (und dem Büchchen, wie anzunehmen ist, auch eine ungewöhnlich große Auflage) beschieden. Dieses Aufsehen hat aber allenfalls einen Anstoß dafür gegeben, dass die Novelle alsbald große Verbreitung fand und von der Fachwelt in den Rang von hoher Literatur erhoben wurde. Schließlich galt damals wie heute schon, dass Ereignisse, die heute Schlagzeile machen, morgen schon wieder vergessen sein können. Wichtiger für die Einordnung als klassische Literatur dürfte für „Die Judenbuche“ eher die Beschreibung der sozialen Situation (Armut und Elend der Unterprivilegierten, die Wilderei und ungenehmigten Holzschlag als gerechtfertigt ansehen) in dem „abgeschlossenen Erdwinkel“ gewesen sein, in dem die Geschichte aus dem 18. Jahrhundert sich ereignet hat. Droste-Hülshoff tut dies nicht anklagend oder aufrührerisch, sondern untendenziös. Zum Teil erreicht sie das sogar auf dem Umweg über die Schilderung positiver Züge ihres „Negativ-Helden“ Friedrich Mergel. An ihm zeigt sie auf, wie ungünstige Umstände (Friedrich Mergel, der im zweiten Jahr einer unglücklichen Ehe eines trunksüchtigen Witwers mit einer Frau, die ihre Stärke überschätzt hatte, geboren wird, ist seit seinem neunten Lebensjahr vaterlos; er leidet unter der Zurücksetzung durch andere und wird zum angeberischen Außenseiter und schließlich zum Kriminellen) und die Unzufriedenheit Friedrichs mit seinem Dasein seinen Lebensweg beeinflussen und schließlich zum tragischen Ende führen. Damit trifft sie einen Nerv des Zeitgeistes. Gleichzeitig behandelt sie damit ein zeitloses Thema. Zeitlos deshalb, weil sich von seinerzeitigen Verhältnissen zu heutigen durchaus Parallelen ziehen lassen. Wenn sie schreibt, dass nichts seelentötender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch zu nehmen, gilt das für jede Zeit, in jeder Gesellschaftsform, und nicht nur in Zeiten eines zu Ende gehenden Feudalismus. - Das wichtigste und wohl entscheidende Kriterium für die Aufnahme der Novelle in den literarischen Olymp dürfte allerdings in der meisterhaften Darstellung der Entwicklung der Unzufriedenheit eines Menschen, dessen „Natur nicht unedel“ war, hin zu kriminellem Verhalten, und vor allem auch in den Unsicherheiten zu suchen sein, mit denen die Autorin nicht nur den oberflächlichen Leser zum Nachdenken anregt. - Diese Unsicherheiten beginnen damit, dass Droste-Hülshoff die erste Begegnung der Mutter des Sohnes Friedrich mit Johannes Niemand wie folgt schildert: „Als sie (die Mutter Friedrichs) wieder in die Küche trat, stand Friedrich am Herde.“ Das ist sozusagen eine Schlüsselstelle für die ganze Novelle, die man genau lesen muss, um sich nicht schon an dieser Stelle verwirren zu lassen. Am Herde stand nämlich nicht Friedrich, sondern dessen „verkümmertes Spiegelbild“ Johannes Niemand, der von Friedrich wenig später als des Ohms Simon Schweinehirt bezeichnet wird und in Wirklichkeit der Sohn dieses Ohms ist. Letzteres muss der Leser aus späteren Äußerungen der Mutter Friedrichs folgern. Nachdem Johannes Niemand gegangen war, stöhnte sie nämlich: „Ein falscher Eid, ein falscher Eid!“ „Simon, Simon, wie willst du vor Gott bestehen?“ Damit sollte offensichtlich zum Ausdruck gebracht werden, ohne dass dies eigens noch gesagt wird, dass ihr Bruder Simon in einem Vaterschaftsverfahren einen Geschlechtsverkehr mit der Mutter des Johannes und somit seine Vaterschaft unter Eid geleugnet hat. Die Erkenntnis, dass sich Friedrich und Johannes täuschend ähnlich sehen, ist für das Verständnis der Geschichte unerlässlich. - Die nächste Unsicherheit schafft die Autorin, indem sie sich darüber ausschweigt, ob Friedrich, als er den Förster Brandes auf den falschen Weg schickte, wusste, dass auf Brandes auf diesem Weg (an der Buche, dem Ding, das zusammen mit Juden der Novelle schließlich den Namen gegeben hat) der Tod wartet. Es bleibt daher in gewisser Weise offen, ob sich Friedrich schon insoweit schuldig gemacht hat. Vieles spricht für seine Schuld (die Autorin lässt ihn sogar sagen “Ich habe schwere Schuld, dass ich ihn den unrechten Weg geschickt …“), zwar nicht als Täter (Droste-Hülshoff schreibt: Sein Alibi zur Zeit des Todes war leicht erwiesen.), wohl aber durch anderweitige Beteiligung, und außerdem hinsichtlich einer Falschaussage in Bezug auf die als Mordwaffe verwendete Axt. Immerhin erfährt der Leser insoweit von der Autorin wenigstens, dass diese Geschichte nie aufgeklärt wurde, sodass dem Leser in diesem Punkt kein zusätzliches Rätsel aufgegeben wird. - Gleichermaßen ins Unklare versetzt wird der Leser sodann, was den Mord am Juden Aaron anbelangt. Friedrich hatte bei einer Hochzeitsveranstaltung am Mordtag in aller Öffentlichkeit mit einer silbernen Uhr geprahlt und auf die Frage, ob sie auch bezahlt sei, keine Antwort gegeben; plötzlich war der Jude Aaron auf dieser Veranstaltung erschienen und es zu einem Wortwechsel zwischen ihm und Friedrich gekommen, in dem der Jude „ihn laut vor allen Leuten um den Betrag von zehn Talern für eine schon um Ostern gelieferte Uhr gemahnt hatte“; anschließend war Friedrich „wie vernichtet“ fortgegangen und der Jude ihm gefolgt. An einer anderen Stelle heißt es dagegen, dass Friedrich „vielleicht“ unschuldig an diesem Mord war, weil ein Lumpenmoises genanntes Mitglied der Schlemmingschen Bande ausgesagt habe, „dass ihn nichts so sehr gereue, als der Mord eines Glaubensgenossen Aaron, den er im Wald erschlagen und doch nur sechs Groschen bei ihm gefunden habe“. Dies entwertet den Verdacht gegen Friedrich, der sich durch seine Flucht, auf der er Johannes mitgenommen hatte, noch verdächtiger gemacht hatte, als er ohnehin schon war, nahezu, beseitigt ihn aber nicht völlig. - Vollends in die Irre geführt wird der Leser dann dadurch, dass der eine der beiden Geflüchteten, der nach fast einer Hälfte eines Menschenlebens zurückgekehrt war, zunächst als Johannes identifiziert wurde. Dazu lässt einen Droste-Hülshoff wissen: „Der Heimgekehrte ward als Johannes Niemand erkannt, und er selbst bestätigte, dass er derselbe sei …“ sowie „die Alten fanden seine Züge noch ganz wohl heraus, so erbärmlich entstellt er auch war“. Am Schluss der Novelle äußert sich auch der Gutsherr, wie ihm der in der Judenbuche Erhängte gezeigt wird, erst einmal: „Gott, es ist Johannes!“ Erst wie nach Öffnen der Halsbinde eine breite Narbe an der Leiche sichtbar wird, kommt vom Gutsherrn der Satz: „der da war Friedrich Mergel.“- Und selbst an dieser Stelle gibt Droste-Hülshoff mit dem weiteren Satz des Gutsherren: „Es ist nicht recht, dass der Unschuldige für den Schuldigen leide“ noch einmal ein kleines Rätsel auf. Für unsere heutigen Ohren passt in diesem Satz das Wort „leiden“ nicht so recht, weil alles menschliche Leiden ja eigentlich mit dem Tod endet. Gleichwohl will Droste-Hülshoff hier den Gutsherrn wohl sagen lassen, dass für den des Mordes an dem Juden Aaron schuldigen Friedrich Mergel, der sich selbst gerichtet hat und als Selbstmörder anschließend im Schindanger verscharrt wird, nicht der unschuldige Johannes Niemand als der Mörder des Juden Aaron angesehen werden soll. - Rein formal wird "Die Judenbuche" übrigens vermutlich auch deswegen noch heute als Schullektüre empfohlen, weil sie als Überschrift ein für Novellen als charakteristisch angesehenes so genanntes Dingsymbol trägt und weil an ihr der Unterschied zu einer Kurzgeschichte bzw. zu einem Entwicklungsroman verhältnismäßig einfach herausgearbeitet werden kann.
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