Rezension zu "Die Julikrise" von Annika Mombauer
Derzeit erscheinen so viele neue Bücher zur Vorgeschichte, zum Ausbruch und zum Verlauf des Ersten Weltkrieges, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Ein schmales und unscheinbares Werk wie das vorliegende Büchlein läuft Gefahr, in der Masse der Neuerscheinungen unterzugehen. Die in Großbritannien lehrende deutsche Historikerin Annika Mombauer, eine Schülerin von John Röhl, durch ihre Arbeiten über den jüngeren Moltke und die Geschichte der Weltkriegsforschung als Kennerin der Materie ausgewiesen, präsentiert auf weniger als 120 Seiten eine knappe Deutung der Juli-Krise. Mombauer weiß, dass sie sich eines seit jeher kontrovers diskutierten Themas angenommen hat, scheut sich aber nicht, klar und unmissverständlich Stellung zu beziehen.
Schon in der Einleitung macht sie deutlich, wo ihrer Meinung nach die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu suchen ist: In Wien und Berlin. Die Verantwortung Frankreichs, Russlands und Großbritanniens wiegt Mombauer zufolge weniger schwer. Zugeständnisse an deutsche Empfindlichkeiten macht Mombauer nicht. Nichts liegt ihr ferner, als Deutschland zu entlasten und die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gleichmäßig auf alle europäischen Großmächte zu verteilen, so dass keine von ihnen zu gut oder zu schlecht wegkommt. Mal mehr, mal weniger explizit schreibt Mombauer gegen Christopher Clark an, dessen These, die Staatsmänner Europas seien wie "Schlafwandler" in den Krieg getaumelt, sie entschieden ablehnt (S. 118).
Mombauer ist davon überzeugt, dass der Erste Weltkrieg kein "Unfall" war. Er brach aus, weil das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn ihn wollten. Die Habsburgermonarchie sah nach dem Attentat von Sarajewo die Zeit gekommen, ihren fragwürdig gewordenen Großmachtstatus durch energisches Vorgehen gegen Serbien zu bekräftigen. Das absehbare Eingreifen Russlands zugunsten Serbiens nahm Wien dabei ebenso in Kauf wie Berlin. Beide Mächte waren schon seit Jahren über Russlands Aufrüstung beunruhigt und wollten lieber früher als später gegen das erstarkende Zarenreich losschlagen. Die Aussichten, aus einem Krieg gegen Russland siegreich hervorzugehen, schienen mit jedem Jahr zu schwinden. Beide Staaten schlossen von vornherein eine diplomatische Beilegung der Balkankrise aus. Die Krise hätte nicht eskalieren können, wenn Berlin die verbündeten Österreicher nicht von Anfang an in dem Entschluss bestärkt hätte, ausschließlich auf eine militärische Lösung zu setzen.
Die Möglichkeit, dass aus einem lokalen Konflikt ein großer europäischer Krieg werden könnte, hatten die Politiker und Militärs in Wien und Berlin von Anfang an einkalkuliert. Besonders die deutsche Führung wollte testen, wie sich die Entente in dieser Krisensituation verhalten würde. Würden Russland und Frankreich untätig zusehen, wenn Österreich-Ungarn gegen Serbien vorging? Wenn ja, dann bot sich eine Chance, die Entente zu sprengen und die Einkreisung der Mittelmächte aufzubrechen. Das Deutsche Reich war längst auf einen Zweifrontenkrieg eingestellt und bereit, es mit Frankreich und Russland gleichzeitig aufzunehmen. Dass Großbritannien seine Neutralität erkläre, war Berlins Wunschoption, aber auch von einem Kriegseintritt der Briten auf Seiten Frankreichs und Russlands hätte es sich nicht vom Krieg abbringen lassen, so Mombauer.
Die Reaktionen und Entscheidungen der Regierungen Serbiens, Russlands, Frankreichs und Großbritanniens nach Übergabe des österreichischen Ultimatums sind Mombauer zufolge von sekundärer Bedeutung für die Eskalation der Krise hin zum Krieg. Schwerer wiegt ihrer Meinung nach, dass das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn auch in den letzten Julitagen alle Vorschläge für eine diplomatische Klärung der Krise ablehnten. Die russischen Beistandsbekundungen gegenüber Serbien, die französischen Zusicherungen an Russland, im Ernstfall den vereinbarten Bündnispflichten nachzukommen, Russlands frühzeitige Teilmobilmachung ab dem 26. Juli sind nach Mombauers Auffassung weniger gravierende Faktoren als die Weigerung Berlins und Wiens, die von London mehrfach vorgeschlagene Verhandlungslösung zu akzeptieren. Gleichwohl stellt Mombauer klar, dass an Frankreichs und Russlands grundsätzlicher Kriegswilligkeit kein Zweifel bestehen kann. Beide Staaten sahen in dem Krieg eine willkommene Bewährungsprobe für ihr Bündnis. Großbritannien ergriff schließlich Partei für Frankreich und Russland, weil es nicht riskieren wollte, der latenten Rivalität mit dem Zarenreich durch Untätigkeit neue Nahrung zu geben.
Sicher ist kein Autor glücklich darüber, die Juli-Krise auf so knappem Raum behandeln zu müssen. Mombauer kann viele Aspekte nicht ansprechen, die im Zusammenhang mit ihrem Thema eigentlich von Bedeutung sind (z.b. Nationalismus und Revanchismus, das Wettrüsten, die Entwicklung der Bündnissysteme u.a. mehr). Das Buch setzt in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Weltkrieges ein und besitzt daher nicht die zeitliche Tiefendimension, die zum Verständnis der Juli-Krise eigentlich nötig ist. Eine umfänglichere Darstellung, etwa das vieldiskutierte Buch von Christopher Clark, kann ein wesentlich subtileres, nuancenreicheres Bild entwerfen als Mombauers schmaler Band. Lesenswert ist Mombauers Büchlein allemal. Die Autorin verdient Respekt dafür, dass sie eine klare und eindeutige Position bezieht, auch wenn absehbar ist, dass sie mit dieser Position bei vielen deutschen Lesern auf Widerspruch stoßen wird, zumindest bei denen, die im Banne von Clarks Werk stehen. Für sich genommen ist Mombauers Argumentation schlüssig. Mombauer spricht Frankreich und Russland nicht von jeglicher Mitverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges frei, schätzt die Verantwortung dieser beiden Staaten aber als geringer ein als die der Mittelmächte, die - wie Mombauer mehrfach mit Nachdruck betont - die Möglichkeit eines großen europäischen Krieges von Anfang an bewusst in Kauf nahmen.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Februar 2014 bei Amazon gepostet)