Interesse am Thema war vorhanden, Kolonialismus, die Nelkenrevolution; ich lese gern gute Literatur. Der portugiesische Altmeister António Lobo Antunes stand mehrfach auf der Liste für den Literaturnobelpreis. Hohe literarische Kunst. Aber wie es bei Kunst so ist, sie trifft nicht immer den Geschmack. Ich verneige mich – aber es tut mir leid, ich mochte nach 50 Seiten nicht weiterlesen.
Der erste Satz:
«Meine Mutter war deren Cousine ersten Grades, will heißen Cousine ersten Grades des Vaters, nicht die des schwarzen Sohns, der überhaupt nicht sein Sohn war, obwohl er ihn wie einen Sohn behandelte und der Ne... ihn wie einen Vater, der Cousin meiner Mutter hat ihn im Alter von fünf oder sechs Jahren aus dem Krieg in Angola mitgebracht, damals war ich noch nicht geboren, ich kam später, und ich erinnere mich daran, wie mein Stiefvater auf meine Frage, wieso der Cousin mit einem Kind zurückgekommen war, das wahrscheinlich im Busch, wo er es gefunden hat, glücklicher wäre, antwortete, dass fast alle Soldaten mit Erinnerungsstücken zurückkamen, mit einer Maske, einer Holzfigur, einem Ohr in einer Flasche mit Alkohol, einem Jungen, einem Arm weniger, Schweigen mitten in Gesprächen, in denen sie sich in sehr weite Ferne zurückzogen und dennoch hierblieben, in der Ferne konnte man, jedenfalls war mir so, fast Schüsse und Schreie hören, mein Stiefvater war wegen seines Klumpfußes nicht in Afrika, doch Nachbarn hier aus dem Dorf sind dort gewesen und waren anders als er, ungesellig, unwirsch, fast alle seltsam, das entnahm ich den Klagen ihrer Frauen, im Gemüsegarten auf einem Stein sitzend, schauen die Männer wer weiß wohin oder lauschen dem Laub mir unbekannter Bäume, einer von denen durchtrennte seinem Hund, anstatt ihn mit dem Stiefel wegzuscheuchen, mit der Hacke die Kehle ...»
Dieser Satz ist noch lange nicht zu Ende; er umfasst circa die Hälfte, fließt fast über zwei Seiten. Es geht in diesem Erzählstil weiter. Nach 50 Seiten habe ich in die Mitte und nach hinten geblättert, ein wenig gelesen, es wird sich nichts ändern. Atemlos galoppiert der Autor in langen Schachtelsätzen durch die Seiten, innerhalb des Satzes die Perspektive gewechselt, kurz eine wörtliche Rede integriert. Der Adoptivsohn berichtet – die Gegenstimme der Vater – Gedankensplitter – das mitten im Satz. Das Gebilde legt sich mir eher als Textlandschaft dar, ein Baum mit Ästen und Wurzeln, die in alle Richtungen ausschlagen – und das mehrfach in einem langen Schachtelsatz. Ein Text, der fordert. Kein Problem für mich, auch mit langen Sätzen kann ich mich gut anfreunden. Hier haben wir es mit einem speziellen Stil zu tun, einer aufzählenden Erzählweiseweise, die ja Tempo macht. Doch dieses Tempo fährt durch das gesamte Buch. Dazu kommt, dass wir es hier nicht mit einer Erzählung im üblichen Sinn zu tun haben, mit einer folgerichtigen Handlung, die eine Geschichte mehr oder weniger vom Anfang zum Ende erzählt. Kopfkino auf das Papier gebracht, wütend, querbeet. Das ist hohe Kunst und man muss sie mögen. Wer damit klarkommt, dem wird das Buch ein Genuss sein.
Worum geht es überhaupt? Angola zurzeit des Kolonialkriegs. Ein afrikanischer Junge überlebt als einziger ein Massaker, das portugiesische Soldaten in seinem Dorf anrichten, brandschatzen, Menschen verstümmeln. Ausgerechnet der Mann, der seine Eltern getötet hat, nimmt diesen Jungen mit nach Portugal, adoptiert ihn. Doch in Lissabon wird er nie akzeptiert werden, Diskriminierung steht auf der Tagesordnung. Der Junge wird nie ein Portugiese sein, egal was in seinem Pass steht. Und die Erinnerungen an den Krieg verfolgen sowohl den Vater als auch den erwachsenen Adoptivsohn. Die Handlung macht sich an einem alljährlichen Schlachtfest auf, berichtet von den Grauen des Krieges. Brutaler Kolonialismus, Rassismus sind das Thema.
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als zwanzig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und wurde 2018 in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen, die höchst renommierte Sammlung von Klassikern der Weltliteratur.