Anthony Levi (1929-2004) war ein britischer Theologe und Literaturwissenschaftler, ein Experte für die französische Literatur des 17. Jahrhunderts. Gegen Ende seines Lebens unternahm Levi zwei Ausflüge in die Gefilde der historischen Biographik. Im Jahr 2000 veröffentlichte er eine Biographie über Kardinal Richelieu und im Jahr seines Todes eine Biographie über Ludwig XIV. Beide Bücher weisen erhebliche Schwächen auf und sind keine ernst zu nehmenden Beiträge zur biographischen Literatur über den Kardinal und den Sonnenkönig. Das Buch über Ludwig XIV. ist, so hart dieses Urteil auch klingt, komplett misslungen. Als Historiker kann man sich nur wundern, dass Levi das Manuskript bei einem angesehenen Verlag unterzubringen vermochte. Die Biographie geht von der Annahme aus, nicht Ludwig XIII. sei der Vater Ludwigs XIV. gewesen, sondern Kardinal Mazarin, Richelieus Nachfolger im Amt des Ersten Ministers. Das enge, vertraute Verhältnis zwischen Mazarin und Königin Anna, der Mutter Ludwigs XIV., bietet seit Jahrhunderten Anlass zu schlüpfrigen Spekulationen. Die These von der Vaterschaft Mazarins beruht auf einer einzigen Quelle, die allerdings nicht im Original vorliegt, sondern nur als spätere Abschrift. Levi verweist auf einen Brief, den Mazarin im September 1637 in Paris geschrieben haben soll. Der gebürtige Italiener stand zu diesem Zeitpunkt noch in päpstlichen Diensten und lebte noch nicht dauerhaft in Frankreich. Ludwig XIV. wurde am 5. September 1638 geboren. Die Empfängnis muss also Ende November, Anfang Dezember 1637 erfolgt sein. Der von Levi zitierte Brief ist daher kein überzeugender Beleg für Mazarins Vaterschaft. Quellen, die Mazarins Anwesenheit in Paris und am Hof im November und Dezember 1637 belegen könnten, gibt es offensichtlich nicht. Levis "Beweisführung" ist hanebüchen. Es kommt aber noch schlimmer: Levi ist überzeugt, Ludwig XIV. habe gewusst, dass Mazarin sein Vater sei. Dieses Wissen sei die Ursache für eine tiefe Unsicherheit gewesen, die den Sonnenkönig zeitlebens geplagt habe. Ludwig sei klar gewesen, dass ihm der Thron eigentlich nicht zustand. Er sei verletzlich und angsterfüllt gewesen, es habe ihm an Selbstbewusstsein gefehlt, er habe sich in Liebesaffären gestürzt und Kriege vom Zaun gebrochen, um seine emotionale Unsicherheit und seine Schuldgefühle zu lindern. Man reibt sich verwundert die Augen, wenn man das liest. Wie kann es sein, dass vor Levi kein anderer Autor die vermeintlichen Seelenqualen des Sonnenkönigs erkannt hat? Die Antwort ist einfach: Weil es keine Belege gibt, keine Selbstzeugnisse des Monarchen und keine Aussagen von nahestehenden Personen, die eine Diagnose ermöglichen, wie sie Levi stellt. Die amateurpsychologischen Phantastereien des Verfassers sind das zweite große Ärgernis des Buches.
Auch ohne die beiden abwegigen Thesen wäre die Biographie weitgehend unbrauchbar. Es wird nicht klar, an welchen Leserkreis sich das Buch richtet. Levi hat nur wenige Quellen herangezogen, etwa die Memoiren der Madame de Motteville und des Kardinals Retz oder die Briefe der Madame de Sévigné und der Liselotte von der Pfalz. Selbst von diesen wenigen Quellen macht Levi nur selten Gebrauch. Was die Sekundärliteratur betrifft, so stützt er sich im Wesentlichen auf die Biographien Ludwigs XIV. von Nancy Mitford (1966), John Wolf (1968), François Bluche (1986) und Ian Dunlop (1999). Die Bücher von Mitford und Dunlop können schwerlich als bedeutende Standardwerke gelten. Auffälligerweise hat Levi die Ludwig-Biographie von Jean-Christian Petitfils (1995) nicht benutzt, obwohl diesem Werk der Vorzug gegenüber der umstrittenen Biographie von Bluche zu geben ist. Levis Buch bietet keinerlei Lesegenuss. Immer wieder tauchen Personen auf, die Levi nicht angemessen vorstellt und einführt. Die Exkurse zur Geistes-, Kultur- und Religionsgeschichte Frankreichs im 17. Jahrhundert sind für Leser mit geringen Vorkenntnissen nahezu unverständlich. Das gilt besonders für die Passagen über den Jansenismus. Levis theologische und literaturhistorische Spezialkenntnisse sind eher ein Handicap als eine Stärke. Was die Herrschaft Ludwigs XIV. angeht, so wartet Levi nicht mit originellen oder überraschenden Einsichten auf. Angesichts der schmalen Quellen- und Literaturgrundlage des Buches ist das nicht verwunderlich. Hier und da haben sich peinliche Fehler in den Text eingeschlichen, die ein aufmerksamer Lektor hätte bemerken und beheben müssen: Die erste Gemahlin Kaiser Leopolds I. war nicht jene Prinzessin Margarete von Savoyen, die zeitweise als Braut für Ludwig XIV. im Gespräch war, sondern die Infantin Margarete Theresia von Spanien (S. 160, 162). Louise de La Vallière, Ludwigs erste offizielle Mätresse, war unverheiratet. Sie hatte keinen Ehemann, dem sie ihre Mitgift überließ, als sie 1674 ins Kloster ging (S. 165). Der folgende Satz über Herkunft und Eltern der Madame de Maintenon, Ludwigs zweiter Gemahlin, ergibt überhaupt keinen Sinn: "In 1652, he [= der Dichter Paul Scarron] married Françoise d’Aubigné, daughter of the prison governor of Niort jail, who had been seduced by the impoverished son of the poet Agrippa d’Aubigné" (S. 177). Nicht Françoise d’Aubigné, die spätere Madame de Maintenon, war Tochter eines Gefängnisleiters, sondern ihre Mutter Jeanne de Cardilhac. Im Übrigen leitete Jeanne de Cardilhacs Vater nicht das Gefängnis von Niort, sondern das von Bordeaux (das ist keine Bagatelle – die beiden Städte sind rund 150 km voneinander entfernt). Marschall Vauban (gest. 1707) wurde 1705 in den Orden vom Heiligen Geist aufgenommen, nicht 1708 (S. 263). Die Stammtafel am Anfang des Buches weist viele Fehler auf, bis hin zur falschen Zuordnung von Ehepartnern: Ludwigs uneheliche Tochter Maria Anna (1666-1739) heiratete Ludwig Armand von Bourbon-Conti (1661-1685), nicht dessen jüngeren Bruder Franz Ludwig (1664-1709).
Der Constable-Verlag hat Anthony Levi einen Bärendienst erwiesen, als er das Manuskript annahm und ohne gründliches Lektorat veröffentlichte. Als Literaturhistoriker mag sich Levi Verdienste erworben haben, als Biograph des Sonnenkönigs hat er jedoch versagt.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juni 2018 auf Amazon gepostet)