Cover des Buches Der Märchenerzähler (ISBN: 9783789142895)
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Rezension zu Der Märchenerzähler von Antonia Michaelis

Rezension zu "Der Märchenerzähler" von Antonia Michaelis

von ::Nina:: vor 13 Jahren

Rezension

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::Nina::vor 13 Jahren
»Junge Frau«, sagte ein älterer Herr, der gerade mit seiner Frau am Arm die Cafétreppe hinuntergekommen war, »junge Frau, darf ich Ihnen mein Taschentuch geben? Sie weinen ja.« »Oh«, sagte Anna. »Tatsächlich. Sehen Sie, und ich dachte, ich lache. So kann man sich täuschen.« – Seite 126 – Rezension Die 17jährige Anna lebt in ihrer eigenen Welt. Wohl behütet aufgewachsen kennt sie keine Sorgen. Auch das anstehende Abitur beunruhigt sie nicht. Anna ist eine Musterschülerin. Eine Mustertochter. Weil sie nicht jede Woche in einen anderen Jungen verliebt ist, wird sie von ihrer besten Freundin stets »mein Kind« genannt. Alles in Annas Leben ist absolut harmlos. Fragt man Anna allerdings, was sie bedrückt, so antwortet sie schlicht mit »die Welt«. (Pathetisch? Ach.) Es ist daher kein Wunder, dass Anna irgendwann ein Auge auf Abel wirft. Abel, der von allen nur »der Kurzwarenhändler« genannt wird, weil er auf dem Pausenhof Drogen verkauft. Obwohl er Anna immer wieder zurückweist, verliebt sich das Mädchen in ihn, denn Abel ist mehr als der bedrohliche Typ, mit dem niemand etwas zu tun haben möchte. (Natürlich. Wer ist nicht mehr als das, was andere zu sehen meinen?) Er ist ein Geschichtenerzähler. Und ein Junge, der alles tun würde, um seine kleine Schwester zu beschützen… Zunächst das Positive: Das Cover ist wunderschön und nicht nur auf dem Schutzumschlag abgebildet, sondern auch direkt auf den Einband gedruckt. Das hat man selten und es gefällt. Ebenso wie der Schreibstil der Autorin, denn der hat ohne Zweifel Wiedererkennungswert. Antonia Michaelis schreibt melodisch, fast schon poetisch. Ein bisschen erinnert der Stil an Christoph Marzi ohne krude Metaphern und abgehackte Sätze. Für das Märchen, das sie Abel erzählen lässt, hat sie damit den perfekten Ton getroffen. In den realen Parts wirkt ihre Sprache allerdings manches Mal aufgesetzt. Die Dialoge sind für die Bühne geschrieben, nicht für das Leben und der Reiz eigener Wortkreationen wie Winterstiefelspuren geht mit der Zeit verloren. Vor allem, wenn sie sich wiederholen. (Februargebüsch, Februarlicht, Februarwind…) Trotzdem, erzählen kann Antonia Michaelis. Das zeigt auch der Handlungsverlauf, in dem sie Wahrheit und Fiktion geschickt miteinander verwebt und den Leser bis zum Schluss darüber im Unklaren lässt, wer wirklich für die Morde, die nach und nach geschehen, verantwortlich ist. Klar, eine Vermutung hatte ich und am Ende lag ich damit auch richtig, aber trotzdem hat es die Autorin immer wieder geschafft, mich zu verunsichern und meinen Verdacht ins Wanken zu bringen. Warum dann also die schlechte Bewertung? Weil ich mich zu keiner Zeit mit den Figuren identifizieren konnte. So dramatisch ihr Schicksal ist, von der ersten bis zur letzten Seite sah ich sie (wie im Übrigen auch die Nebenfiguren) mit einer gewissen Distanz, konnte viele Handlungen nicht nachvollziehen, nicht begreifen. Bei dem Versuch, gesellschaftskritisch zu sein und scheinbar nach dem Motto Schlimmer geht immer die schrecklichste aller Realitäten abzubilden, ist Antonia Michaelis irgendwann sämtliches Feingefühl abhanden gekommen und sie hat dabei zwei theatralische und im Fall von Anna so unglaublich rückgratlose Charaktere geschaffen, dass es mich beim Lesen grauste. Was sollte die Szene im Bootshaus? Für die Geschichte war sie – wie auch Abels Einkommensquelle neben der Dealerei – keineswegs vonnöten. Es wäre auch so schon alles schlimm genug gewesen. Warum die Autorin ihren jungen Leserinnen eine solche »Heldin« vorsetzt, ein Mädchen, das unter Realitätsverlust leidet, sich komplett aufgibt und sich bis zum Ende keinen Millimeter in Richtung Leben bewegt, ist mir ein Rätsel. Liebt wirklich nur, wer alles (alles !!) verzeihen kann? Nichts hat sie gelernt. Gar nichts. Das mag realistisch sein, aber so etwas möchte ich in einem Jugendroman nicht lesen. Vor allem nicht, wenn ein Nebenstrang im Vergleich so dermaßen unrealistisch und gefällig gelöst wird wie hier. Das passt dann einfach nicht zusammen. FAZIT: Ein spannendes, sprachlich ausgefeiltes Buch, in dem jedoch leider mit fragwürdigen Mitteln gearbeitet wird, um die Kernaussage zu untermauern. Auf jeden Fall nicht die herzzerreissende Liebesgeschichte als die es verkauft wird, sondern vielmehr ein Buch über Menschen mit Problemen, die leider nicht gelöst werden können.
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