Cover des Buches Alles, was wir wissen konnten (ISBN: 9783455405415)
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Rezension zu Alles, was wir wissen konnten von Ariëlla Kornmehl

Leerstellen

von Bri vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Sprachlich einfach, arbeitet die Autorin sehr gekonnt, mit dem was manche Leben leider ausmacht: Leerstellen. Wir können nie alles wissen.

Rezension

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Brivor 8 Jahren
Jet, eine junge Jüdin aus Amsterdam muss auf dem Land untertauchen. Die Nazis haben die Niederlande besetzt, und Jets Familie muss ihr Hab und Gut auflösen. Möbelstücke und nicht so wertvolle Gegenstände werden bei einer Firma verwahrt, was mitgenommen werden kann, wird mitgenommen. So bringt Jet in ihrem Köfferchen ein Bild Edgar Degas zu Henk, dem Bekannten auf dem Land, der das Risiko eingeht, sie als seine Haushaltshilfe auszugeben. Jets Mutter gibt ihr das Bild mit, damit die darauf abgebildete Tänzerin über sie wacht.

Die Deutschen sind in Haarlem keine Gefahr für Jet, wohl aber der unangenehme Nachbar, ein Nazi-Kollaborateur. Es kommt, wie man vermuten kann - Jet kann sich ihrer Haut nicht wehren und lässt vieles über sich ergehen, damit niemand erfährt, dass sie Jüdin ist und dass das nicht ihr einziges Geheimnis darstellt. Das geht soweit, dass sie den gemeinsamen Sohn schweren Herzens dem Vater überlassen und ihm ihre Beziehung nie offenbaren werden wird. Dadurch rettet sie nicht nur sich.

Ariëlla Kornmehl ist mit ihrem Roman Alles, was wir wissen konnten kein schöner Roman gelungen, aber ein sehr guter. Zeigt sie doch in einer klaren, kühlen Distanziertheit - vor allem sprachlich - was Menschen fähig sind zu erleiden, um zu überleben und offenbart gleichzeitig, dass ein Leben nicht nur aus einer Perspektive betrachtet werden kann. Zu den unterschiedlichen Sichtweisen kommen noch die Leerstellen, die nicht gefüllt werden können. Bravourös geht Kornmehl damit um. Neben der zweiten Sicht, die der Leser durch Otto, den Sohn Jets und ihres Peinigers, erhält, zeigt die Autorin, wie unterschiedlich ein und derselbe Mensch sich in verschiedenen Beziehungen verhalten kann, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Quintessenz, die dabei zu Tage tritt ist: Wir werden nie alles wissen.

Wer kennt das nicht aus der eigenen Familiengeschichte? Großeltern, Eltern erzählen Geschichten von früher, die man aus eigener Anschauung nicht kennen kann. Doch was genau hinter den Erzählungen steckt, ist nie ganz sicher. Manchmal fehlt ein Puzzlestück, das eine Verbindung aufdecken könnte. Ab und an werden diese Puzzlestücke kurz vor dem Tod zum Beispiel der Großeltern aus dem Vergessen hervorgeholt und setzen Beziehungen in ein neues, anderes Licht. Leerstellen können aber dennoch bleiben. Denn auch die eigene Erinnerung kann die Wahrheit verändern. Einzig Degas Tänzerin scheint ihre Aufgabe, über Jet zu wachen, wahrgenommen zu haben und vielleicht können über die Reise, die das Bild hinter sich hat, nachträglich einige Leerstellen gefüllt werden ...
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