Will man sich als Deutscher mit der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert befassen, so findet man nur mit Mühe geeignete Überblicksdarstellungen. Ohne Englisch- und/oder Französischkenntnisse ist eine Beschäftigung mit diesem Thema heute kaum möglich. Auf dem deutschen Buchmarkt gibt es gegenwärtig keine aktuellen Werke zur Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert, weder Bücher aus der Feder deutscher Historiker noch Übersetzungen aus dem Französischen oder Englischen. Ganz gleich, ob man Studierender oder historisch interessierter Laie ist, es bleibt nur der Gang in die Bibliothek oder ins Antiquariat. In deutscher Sprache stehen zwei ältere Werke zur Verfügung. Sie sind vor mehreren Jahrzehnten entstanden. Der Kohlhammer-Verlag brachte in den 1980er Jahren eine fünfteilige Geschichte Frankreichs heraus. Das 16. Jahrhundert behandelt der Band von Ilja Mieck [1]. Zur gleichen Zeit erschien im Verlag Fayard unter der Herausgeberschaft des Mediävisten Jean Favier eine sechsbändige Geschichte Frankreichs. Die Deutsche Verlagsanstalt (DVA) ging das Wagnis ein, die gesamte Reihe auf Deutsch herauszubringen. So etwas wäre heute undenkbar. Der Band von Jean Meyer umfasst die ganze Frühe Neuzeit [2]. Die Bücher von Meyer und Mieck sind inzwischen so alt, dass sie im Rahmen des universitären Seminarbetriebes nicht mehr benutzt werden können. Der Forschungsstand ist heute ein anderer als zu Beginn der 1980er Jahre. Zwei Gesamtdarstellungen neueren Datums, die als Einstiegslektüre hervorragend geeignet sind, wurden leider nicht ins Deutsche übersetzt. Sie sind daher nur Leserinnen und Lesern mit soliden Englisch- und/oder Französischkenntnissen zugänglich. Es handelt sich um die Werke von Robert Knecht [3] und Arlette Jouanna.
An den Arbeiten von Arlette Jouanna (1936-2022) kommt niemand vorbei, der sich vertiefend mit der Geschichte Frankreichs im Zeitalter der Renaissance, der Reformation und der Religionskriege beschäftigt. Kein einziges von Jouannas Büchern wurde je ins Deutsche übertragen. Das ist sehr zu bedauern. Von besonderem Wert sind Jouannas Studie über die Bartholomäusnacht von 1572 und eine Biographie über Michel de Montaigne [4]. Ein unverzichtbares Arbeitsinstrument für Studierende und Lehrende ist die Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert, die Jouanna für die Presses Universitaires de France (PUF) verfasst hat. Es handelt sich um ein Lehr- bzw. Handbuch (manuel), das in erster Linie für den universitären Seminarbetrieb gedacht ist, aber auch von historisch interessierten Laien mit großem Gewinn gelesen werden kann. Die erste Auflage des Buches erschien 1996. Zwei überarbeitete Neuauflagen kamen 2006 und 2016 heraus. Für die Neuauflagen hat Jouanna den Text ergänzt und die Literaturhinweise aktualisiert. Damit hat sie gewährleistet, dass sich das Buch kontinuierlich auf der Höhe des Forschungsstandes bewegt. Als Jouanna das Buch in den 1990er Jahren schrieb, konnte sie auf eine jahrzehntelange praktische Erfahrung als Hochschullehrerin zurückblicken. Das merkt man dem Buch an, im positiven Sinne. Der Text atmet souveräne Durchdringung und Beherrschung des Stoffes; die Sprache ist angenehm klar, unprätentiös und schnörkellos. Jouanna hat die Darstellung in 40 Kapitel gegliedert, die im Schnitt 16 Seiten umfassen und damit vorzüglich als Lektüregrundlage für Seminarsitzungen geeignet sind.
Das Buch zerfällt in zwei Teile zu je 20 Kapiteln. Der erste Teil umspannt die Jahre von 1483 bis 1559. Er ist eher thematisch als chronologisch angelegt. Jouanna erörtert zunächst geographische Aspekte und die demographische Entwicklung in der Übergangsphase vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. In mehreren Kapiteln behandelt sie nacheinander das religiöse Leben am Vorabend der Reformation, die einzelnen Gruppen der Gesellschaft (Adel und Geistlichkeit, Stadtbewohner und Bauern), das Wirtschaftsleben sowie das politische System der französischen Monarchie. Die Italienkriege und der Langzeitkonflikt zwischen den Königen aus dem Hause Valois und den Habsburgern nehmen erwartungsgemäß breiten Raum ein. Abschließend geht Jouanna auf das Geistesleben (Humanismus), Kunst und Architektur und die rasante Ausbreitung des Calvinismus in den 1550er Jahren ein. Der zweite Teil des Buches (Kap. 21 bis 40) ist eher ereignisgeschichtlich ausgerichtet. Detailreich und anschaulich schildert Jouanna die jahrzehntelangen Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten (1562-1598). Meisterhaft verschmilzt Jouanna die Erträge der internationalen Forschung zur Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert zu einer imposanten Synthese, die allen Facetten der Vergangenheit gleichermaßen gerecht wird, von der politischen Geschichte über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bis hin zur Religions- und Kulturgeschichte. Besondere Erwähnung verdienen die Kapitel über das politische Denken zur Zeit der Renaissance und der Religionskriege. Landkarten, Stammtafeln, Diagramme und Schemata ergänzen den Text. Hinzu kommen an manchen Stellen längere Auszüge aus wichtigen Quellen. Das 15seitige Inhaltsverzeichnis erleichtert den Zugriff auf die sehr kleinteilig gegliederten Kapitel, während das 20seitige Register die gezielte Suche nach Personen und Sachthemen ermöglicht.
Arlette Jouanna zeichnet ein ungemein fesselndes Bild von der dramatischen Geschichte Frankreichs am Beginn der Neuzeit. In den Religionskriegen durchlitt Frankreich eine seiner schwersten Krisen. Der gewaltsam ausgetragene Konfessionskonflikt führte aber nicht zu grundlegenden Veränderungen des politischen Systems und der Gesellschaftsstruktur, wie Jouanna abschließend klarstellt. Die Ständegesellschaft stabilisierte sich, nachdem der Frieden eingekehrt war, und das Königtum ging sogar gestärkt aus der Krise hervor. Unter der neuen Dynastie der Bourbonen triumphierte der Absolutismus. Auch wenn die Darstellung mit über 650 Seiten von stattlichem Umfang ist, wäre eine Übertragung des Buches ins Deutsche zu wünschen gewesen, gegebenenfalls mit behutsamen Kürzungen. Die Übersetzung historischer Sachbücher und Biographien aus dem Französischen ins Deutsche ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren komplett zum Erliegen gekommen. Über die Gründe kann man nur rätseln. Die Sprachbarriere versperrt den Zugang zu den Arbeiten der französischen Geschichtswissenschaft. Im Lehrangebot deutscher Universitäten fristet die Geschichte Frankreichs längst ein Schattendasein. Umso wichtiger wäre es, erprobte und bewährte Überblicksdarstellungen zu einzelnen Epochen der französischen Geschichte ins Deutsche zu übersetzen. Neben dem Buch von Arlette Jouanna hat der Verlag PUF noch fünf weitere Lehr- bzw. Handbücher zur Geschichte Frankreichs im Programm. Zusammen decken die sechs Bände 1.500 Jahre ab, von der Merowingerzeit bis zur Gegenwart. Äußerlich machen sie nicht viel her. Sie sind bewusst einfach produziert, damit die Preise für Studierende erschwinglich bleiben. Ungeachtet ihrer äußerlichen Schlichtheit sind diese Bücher für jeden Frankreich-Enthusiasten ein wertvolles Arbeitsmittel.
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[1] Ilja Mieck, Die Entstehung des modernen Frankreich 1450–1610. Strukturen, Institutionen, Entwicklungen, Stuttgart 1982.
[2] Jean Meyer, Frankreich im Zeitalter des Absolutismus 1515-1789, Stuttgart 1990 (französ. Originalausgabe Paris 1985).
[3] Robert J. Knecht, The Rise and Fall of Renaissance France, 1483-1610, London 1996, 2. Auflage 2001.
[4] Arlette Jouanna, La Saint-Barthélemy. Les mystères d'un crime d'État, 24 août 1572, Paris 2007; dieselbe, Montaigne, Paris 2017.