Cover des Buches Unter der Drachenwand (ISBN: 9783957131201)
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Rezension zu Unter der Drachenwand von Arno Geiger

grandioser Roman

von Gwhynwhyfar vor 6 Jahren

Rezension

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Gwhynwhyfarvor 6 Jahren
»Bald ein ganzes Jahr trieb ich mich in Mondsee herum, indessen der Krieg kein Ende nahm. Der Jahrestag meiner Verwundung war verstrichen, und ich wunderte mich selbst, dass es mir gelungen war, mir den Krieg so lange vom Leib zu halten. Als ich Ende November aus Wien eine Beorderung bekam, durfte ich mich nicht beklagen, jedenfalls nicht laut, denn in Wahrheit war es mir bisher vergönnt gewesen, einen unauffälligen Mittelweg zu gehen, der lag, sagen wir, zwischen dem allergrößten Glück mancher und dem härtesten Schicksal vieler.«

Veit Kolbe, Wehrmachtssoldat, wird im Jahr 1944 an der Ostfront durch einen Granatsplitter schwer verwundet und muss zunächst nach einem Hospitalaufenthalt nach Hause zurückkehren. Bei seinen Eltern in der Possingergasse in Wien fühlt sich der Vierundzwanzigjährige eingeengt, bittet den Onkel, ihm ein Zimmer bei ihm in Mondsee am Mondsee zu besorgen, wo dieser als Postenkommandant arbeitet. Die Quartiersfrau ist knurrig, hinterhältig und geizig. Margot aus Darmstadt, Mutter eines Säuglings, ist Veits Nachbarin, von den anderen Reichsdeutsche genannt, Veit nennt sie die Darmstädterin. Frisch mit einem Linzer verheiratet, weil alle schnell heirateten, bevor sie in den Krieg zogen, Darmstadt ist zerbombt, sitzt sie nun hier, korrespondiert mit dem Ehemann an der Front. Der Brasilianer ist der Bruder der Quartiersfrau, der Gärtner. Man nennt ihn so, weil er viele Jahre in Brasilien gelebt hat, hier am Mondsee von Wärme und Freiheit im fernen Land träumt. Während des Krieges wurden Kinderlandverschickungen organisiert, so landet eine Mädchenschulklasse aus Veits Wiener Nachbarschaft am Mondsee, inklusive einer sehr strengen, jungen Lehrerin. Zurück zu Veits Nachbarschaft in der Possingergasse, hier finden wir den jüdischen Zahntechniker Oskar Meyer, der mit seiner Familie versucht, aus Wien zu flüchten, alle Kontakte durchgeht. Zunächst gelingt die Flucht nach Budapest, wo es der Familie noch schlechter geht.

»Wie schlecht eine Zeit ist, erkennt man daran, dass sie auch kleine Fehler nicht verzeiht.« (Oskar Meyer)

Veit hat im Krieg Schlimmes erlebt, er beschreibt, wie die Armee ganze Dörfer in Schutt und Asche zerlegte, zwischen den Toten nur noch ein paar zerzauste Hühner herumgerannt seien. Er schreibt Tagebuch, die Gedanken abzuarbeiten und langsam erholt sich sein Bein, sein Kiefer, sein Geist. Er lernt die sehr zugeknöpfte Lehrerin kennen, einige Schülerinnen, freundet sich mit der Darmstädterin an und mit dem Brasilianer. Alle Protagonisten stehen in Briefkontakt mit Familie und Freunden. So erfährt man nicht nur etwas vom Mondsee, sondern auch aus Wien, Darmstadt, von der Front. Junge Menschen, alte, verzweifelte, hoffnungsvolle, versuchen, aus ihrem Leben das Beste zu machen. Oskar Meyers Familie lebt in der Illegalität, gerät immer mehr in die Hoffnungslosigkeit. Die Darmstädterin zweifelt an der Liebe zu ihrem Mann und Veit, der nicht an die Front zurückwill ahnt, das Ende des Krieges ist nah, er trickst mit seiner Verletzung, bloß nicht zurück.

»Tante Emma und Onkel Georg sind schon acht Tage begraben und sind zu siebzehnt in einem Sarg«,

berichtet die Mutter der Darmstädterin, Oskar Meyer schreibt alle Bekannten und Verwandten an, sucht nach Lösungen, Geld, Fluchtwegen. Mit großer erzählerischer Kraft bringt Arno Geiger ein Zeitdokument des letzten Kriegsjahrs auf Papier.

»Die Drachenwand macht im Süden eine breite Brust.«

Die Drachenwand, eine Metapher für das Böse im Osten, für die Eroberer im Westen, für die Bedrohung des Krieges, für alles Böse und Ungewisse, denn davon gibt es eine Menge zu berichten. Trotz allem Schlechten bleibt der Ton von Veit plaudernd, im Großen und Ganzen zuversichtlich. Am Mondsee ist die Welt noch ein wenig in Ordnung, trotz überfliegender Bomberflotten. Der Erzähler Veit hat es nicht immer einfach, aber was sind diese Schwierigkeiten schon gegen die Front? Gegen seine immer wieder auftauchenden Panikattacken schluckt er Pervitin. Geheilt wird er durch Margot. Kleine Sätze sind eigenständige Randgeschichten, wenn berichtet wird, dass Schnüre zum Hochbinden von Tomaten fehlen, weil alle Bindfäden für die Pakete an die Front benötigt werden. Für Veit haben Schaufensterpuppen Soldatenhaltung, er berichtet von Hakenkreuzwimpeln, die auf den Gräbern der Alten flattern.

»Einmal in Russland fanden Kameraden und ich auf einer Wiese einen Totenkopf, ein beunruhigender Anblick, wir spielten mit dem Totenkopf Fußball, ich weiß auch nicht. Ich glaube, wir taten es aus Respektlosigkeit gegen den Tod, nicht aus Respektlosigkeit gegen den Toten. Der Tote hätten wir selber sein können. Wir traten den Totenkopf im hohen Bogen über die Wiese, und für einige Minuten gab der Krieg uns frei.«

Die Idylle des Erzählers wird immer wieder durchbrochen. Ein verliebter Bengel aus Wien vermisst seine Freundin, die mit der Schulklasse am Mondsee weilt … Die Mutter der Darmstädterin berichtet von zerstörten Städten, der Ehemann schreibt der Darmstädterinvon der Front, und Oskar Meyer schreibt verzweifelte Briefe aus der Possingergasse, später aus Ungarn, sodass man tief Luft holen muss. Ein wundervoller literarischer Kniff, den Leser immer wieder aufzuscheuchen, wenn er es sich am Mondsee gerade wieder eingerichtet hat, blauer Himmel, ein warmer Tag, kichernde Mädchen am See. Arno Geiger schafft es, allen Figuren Leben einzuhauchen, den Leser mitzunehmen. Die Quartiersfrau ist eine boshafte Hexe, nun, sie hat einen verklemmten Nerv, der zwickt. Ihr Ehemann, ein Lackierer, ein Nazi-Scherge, der zuviel Terpentin geschnüffelt hat, ist ihr verfallen. Recht geschieht ihm. Und der Brasilianer ist ein wenig anders als alle anderen, hört Villa-Lobos in seinem Haus, er ist ein Rebell, ein Exot, vor dem die anderen sich fürchten, einer der sich wehrt, der sich was traut, der das NS-Regime als »Firma« bezeichnet. Mit Erzählkunst schafft Arno Geiger Bilder, seine Protagonisten zeigen dem Leser die Kunst des Überlebens, berichten über das letzte Kriegsjahr, jeder aus seiner Sicht, humorvoll, sarkastisch, verzweifelt. Unprätentiöse kleine Geschichten machen diesen Roman zu einem großartigen Ganzen, Sprachrhythmus, Metaphern, Symbole, gewollte Einbrüche in den Erzählrhythmus, ein Roman voller Kraft. Einer der besten Roman für mich in diesem Jahr.
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