Ein unterhaltsames Buch über eine Ausnahmekünstlerin.
Vorab: Ich selbst bin zu jung, um Julia Neigels frühe Karriere miterlebt zu haben. Als kleines Kind bin ich zwar zu „Schatten an der Wand“ durchs Wohnzimmer getanzt, und natürlich ist der Name mir stets ein Begriff gewesen. Dennoch hatte ich sie, um ehrlich zu sein, lang nicht mehr auf dem Schirm, bis ich die (Auto-)Biografie in einem Buchregal stehen sah. „Ach ja, die Jule Neigel. Was macht die eigentlich jetzt?“ war mein Gedanke, und lieh mir das Buch spontan aus.
Zum Buch:
„Neigelnah“ ist Seelenstriptease. Julia Neigel schreibt sich den Stein vom Herzen, den sie anscheinend jahrzehntelang mit sich herumgeschleppt hat. Dabei kommen Weggefährten mal besser, mal schlechter weg. Ich war an vielen Stellen erstaunt über ihre Offenheit. Auch wenn sie nicht immer Namen nennt, streut sie genug Andeutungen um den Leser wissen zu lassen, mit wem sie hier gerade abrechnet. Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, wann eine Brücke abzubrechen ist. Manchmal ist das sogar unvermeidbar, wenn man seinen Weg der Heilung konsequent gehen möchte.
Die Biografie ist übrigens klassisch chronologisch aufgebaut: Sibirische Wurzeln, erste Erfolge im Rhein-Neckar-Raum, Superstar, seelischer Absturz, PhoenixIn aus der Asche. Fast jedes Kapitel fand ich sehr spannend. Dass große Teile der Musikbranche frauenfeindlich sind, war mir klar, aber zu lesen, wie sehr Neigel das am eigenen Leib erfahren hat, hat mich als Frau auch getriggert. Viele Situation, die sie schildert, habe ich so oder so ähnlich selbst erlebt, auch wenn ich in einer anderen Branche zuhause bin.
Im Kontrast zu dem teilweise krassen Inhalt machte es mir der lockere, angenehme Schreibstil leicht, das Buch innerhalb von wenigen Tagen zu verschlingen.
Eine Sache gibt es allerdings, die mir nicht gefallen hat: Die Balance zwischen Selbstbewusstsein und Selbstbeweihräucherung ist unausgeglichen. Sprich, sie betont häufig (und in der Ich-Form), wie außergewöhnlich, talentiert, hübsch, sportlich und hochbegabt sie doch sei. Wenn man sich in fast jedem Lebensbereich als Überflieger darstellt, hat das ein Geschmäckle. Weniger ist mehr. Aber ich habe auch Respekt davor, wenn es Julia Neigel nicht mehr wichtig ist, ob sie supersympathisch rüberkommt oder nicht. Sie betont im Buch selbst mehrmals, dass sie sich im Leben viel zu oft lieb Kind gemacht hat und das um keinen Preis mehr will.
Fazit: Ich gebe hier kein Urteil über eine Person oder eine Musikerin ab, sondern über ein Buch. „Neigelnah“ hat Spaß gemacht zu lesen, daher 4 Sterne. Und nebenbei bin ich neugierig auf die neueren Alben geworden ...