Rezension zu "Aus der Werkstatt der Demokratie" von Arundhati Roy
Die Essays in „Aus der Werkstatt der Demokratie“ sind all denen gewidmet, „die gelernt haben, Hoffnung und Vernunft zu trennen“ - ein Satz, mit dem sich auseinanderzusetzen lohnt. Man stösst in diesem Band übrigens immer mal wieder auf solche Sätze, die einen innehalten und sie bedenken lassen. Diese hier zum Beispiel: „In Russland sagt man, dass die Vergangenheit nicht vorauszusagen ist. Dank der jüngsten Erfahrungen mit den Schulgeschichtsbüchern wissen wir nun auch in Indien, wie wahr das ist.“
Bereits auf den ersten Seiten der Einleitung, die den Titel trägt „Das schwindende Licht der Demokratie“; stösst man auf Sätze, die klar machen, warum sich die Auseinandersetzung mit diesen Texten lohnt - denn diese Frau ist nicht nur kritisch mit andern, sondern auch mit sich selber: „Als Schriftstellerin, Romanschriftstellerin, habe ich mich oft gefragt, ob der Versuch, immer präzise zusein, alles faktisch richtig darzustellen, das epische Ausmass dessen, was gerade geschieht, schmälert. Verschleiert er womöglich eine grössere Wahrheit? Ich sorge mich, dass ich mich dazu verleiten lasse, prosaische faktische Präzision anzubieten, wo wir vielleicht einen wilden Schrei bräuchten oder die alles verändernde Kraft und wahre Präzision der Poesie. Etwas an der listig-verzwickten, brahmanisch-bürokratischen, aktenverliebten „Halten Sie sich an den Dienstweg“-Natur des Regierens und Unterwerfens in Indien scheint eine Buchhalterin aus mir gemacht zu haben.“
Das ewige Dilemma der Intellektuellen also, eben Merkerin und nicht Täterin zu sein, doch Roy ist eben keine Durchschnittsintellektuelle, sondern eine aufbegehrende, wütende, sich wehrende und sie weiss sich auszudrücken: „Und wer daran glaubt, dass eine Regierung die Pflicht hat, für Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit ihrer Bürger zu sorgen, bekommt zu hören: 'Bist du gegen den Markt?' Und wer ausser einem Idioten ist schon gegen den Markt?“
Man lernt einiges über Indien bei der Lektüre dieser Aufsätze (die übrigens alle bereits andernorts erschienen sind) und vor allem, dass man so recht eigentlich von den politischen Verhältnissen in diesem Land so ziemlich gar nichts weiss, obwohl man doch mit indischen Autoren so unvertraut nun auch wieder nicht ist. Im Unterschied zu Romanautoren berichtet Roy jedoch von konkreten politisch/kriminellen (da besteht häufig kein Unterschied) Machenschaften und stellt diese dann in einen grundsätzlichen Zusammenhang. „... ist die Kluft zwischen Wissen und Information, zwischen dem, was wir wissen, und dem, was uns erzählt wird, zwischen dem Vermuteten und dem Bestätigten, zwischem dem Verheimlichten und dem Veröffentlichten, zwischen Fakt und Hypothese, zwischen der wirklichen und der virtuellen Welt ein Ort endloser Spekulation und potentiellen Wahnsinns. Es wird ein giftiges Gebräu angerührt und gekocht und einem überaus abstossenden, zerstörerischen politischen Zweck zugeführt.“
Arundhati Roy zu lesen, bedeutet dringend benötigte Informationen, die man so nicht in der Mainstream Presse findet, zur Kenntnis zu nehmen. Zu den Attentaten in Mumbai im November 2008, bemerkt sie unter anderem: „Uns wird gesagt, dass eines der beiden Hotels ein Symbol der Stadt Mumbai ist. Das stimmt. Es ist ein Symbol für die leichtfertige, obszöne Ungerechtigkeit, die gewöhnliche Inder tagtäglich erdulden müssen.“ Und unter dem Titel: 'Die Heuschrecken fallen ein. Vom Leugnen und Feiern des Völkermords' hält sie fest: „Völkermord ist ein alter Brauch der Menschen. Er hat eine aussergewöhnliche Rolle beim Vormarsch der Zivilisation gespielt ... Die USA sind das reichste und mächtigste Land der Erde, und auch wenn es darum geht, Völkermorde zu leugnen, stehen sie an erster Stelle. Sie feiern immer noch den Columbus Day, den Tag, an dem Christoph Kolumbus in Amerika landete und der einen Holocaust einleitete, dem Millionen Indianer, fast 90 Prozent der eingeborenen Bevölkerung, zum Opfer fielen. Nach Lord Amherst, dem Mann, dessen Idee es war, mit Windpockenviren infizierte Decken an die Indianer zu verteilen, wurden in Massachusetts eine Universitätsstadt und ein angesehenes geisteswissenschaftliches College benannt.“
Noch à propos Genozid: die Bombardierungen von Tokio, Hiroshima, Nagasaki, Dresden und Hamburg - bei den Hunderttausende Zivilisten umkamen - werden von den USA nicht als Verbrechen (und schon gar nicht als Genozide) anerkannt. Die Begründung? Die Regierung habe nicht geplant, Zivilisten zu töten. „Hierbei handelt es sich um ein frühes Entwicklungsstadium des Konzepts Kollateralsschaden“, merkt Roy trocken an.
Summa summarum: Die in diesem Band versammelten Texte haben das Potential, uns aufzurütteln - wir sollten es nutzen.