Rezension zu "Die Stadt mit der roten Pelerine" von Aslı Erdoğan
Rio – für die meisten von uns wohl ein Sehnsuchtsort, ein Synonym für tropische Gefilde, für Lebenslust und karnevaleske Lebensbuntheit, für mitreißende Sambarhythmen.
Dort zu leben, in einer Art freigewähltem Exil, zeigt andere Facetten auf, zumindest für die Protagonistin Özgür, die uns in diesem „Roman im Roman“ an ihren eigenen, ganz persönlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen mit der erschriebenen, beschriebenen Ö. als ihr Alter ego, teilhaben lässt.
Özgür, deren Name die Freie, die Unabhängige bedeutet, kommt aus Istanbul, einem anderen Sehnsuchtsort, nach Rio, um hier an der Universität zu arbeiten. Sie verliert ihren Job und sie verliert sich selbst. Sie verliert das sie bisher stützende Korsett der eigenen Kultur und der eigenen Sprache. Sie verliert sich in diesem Labyrinth eines Molochs, der von Gewalt und Grausamkeit beherrscht wird, diesem Reigen des Todes.
Aber sie gewinnt auch den Freibrief, das Trikot der überlieferten Verhaltensregeln abzustreifen, ihre bisher verschütteten, ihr unbe-wussten Triebe voll auszuleben: die Freiheit zu tanzen, zu rauchen, sich freizügist zu kleiden, Sex zu haben wann und wo mit wem immer sie es will.
Sie musste über Rio schreiben, obwohl die Stadt sie erdrückte, bedrückte, ihr heimtückisch und gnadenlos ihr eigenes Ich im Spiegel zeigte und so begann sie, in ein dickes hellgrünes Heft, das sie „Die Stadt der roten Pelerine“ taufte, zu schreiben. Die Geschichte, die Gedanken, die Wahrnehmungen der Ö.
Die Einsamkeit, die Isolation und der Tod sind die Eckpfeiler ihrer Erfahrungen, die der Özgür und die der Ö. Die Einsamkeit, die aus allen Poren des Romans tropft. Die Einsamkeit mitten in dieser janusköpfigen, zügellosen Stadt, die verschiedene Gesichter und Masken trägt, die Einsamkeit mitten unter diesen triebhaften Menschen, deren Körperhaftigkeit und Sexualität etwas Maßloses haben, als ob der Körper das Maß aller Dinge sei. Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Die Überbewertung, die narzisstische Präsentation des eigenen Körpers, die pralle Präsenz der Körper – wo hat es seine Wurzeln? Ist es eine Camouflage für die erlittenen physischen und psychischen Demütigungen der Peitschenhiebe durch die Sklaven-halter? Ein Aufschrei: und ich lebe noch?
Özgür versinkt in sich selbst, lebt immer mehr in einem Kokon und kann sich nur durch das Schreiben retten. Immer tiefer verstrickt sie sich in Selbstaufgabe, Selbstentblößung und Selbstzerfleischung. Ist zugleich fasziniert und abgestoßen von dem Gesetz des Dschungels, des alles saftig überwuchernden, grünen mit seinen Krabbel-, Flügel- und Kriechtieren und des menschlichen mit seinen Obdachlosen, Prostituierten, Drogendealern, Bettlern und Straßenkindern. Hasst die Grausamkeit und die Ungerechtigkeit des sie umgebenden Lebens der 600 Favelas und fühlt sich doch hingezogen zu diesem Karussell des Lebens und des Todes. Eine Amour fou.
Asli Erdogan spielt bewundernswert auf der Klaviatur der Zustands-beschreibungen einer blassen, “zeitungsfarbenen”, fast schmächtigen Gringa, die zwar ihren Körper entdeckt, aber den psychischen Herausforderungen nicht gewachsen ist. Die von anderen Gestaden kommt, den mediterranen, levantinischen Gestaden mit einer so ganz anderen Geschichte und Kultur. Mit einem milderen Licht und mit vier Jahreszeiten. Sie beschreibt die Fremdheit des Exils, des Dazuge-hörenwollens und doch wissend: niemals.
Die einzelnen Persönlichkeiten, die in Özgürs Leben auftauchen, wirken wie Schachfiguren im großen Lebensspiel. Da taucht auch die Frage nach der Psyche einer Stadt auf: dem Innen und dem Außen.
Und ihr Tod als Ende scheint mir das einzig logische Ende. Sie stirbt durch eine verirrte Kugel der „Feuerwerker“ aus den Favelas, lautlos, schmerzlos, einsam im Straßengraben liegend wie so viele andere Tote, die sie gesehen hatte; sich an ihre alte Tasche mit ihren einzigen Habseligkeiten klammernd, mit ihrem hellgrünen Notizheft „Die Stadt der roten Pelerine“.
Man fühlt sich bei der Lektüre regelrecht aufgesogen in den Strudel der Farbenprächtigkeit des Lebens und der Tristesse des überall anwe-senden Todes. Und man fragt sich, auf die sich wiederholende Symbolik des Vogels in seinem Käfig eingehend: Was ist unser Käfig?
Zum Abschluss: Ich ist ein Anderer. Dieser kurze Text von Rimbaud passt wie maßgeschneidert auf die Seelenzustände der Özgur und der Ö.“Ich sage, man muss Seher sein, sich zum Seher machen. Der Dichter macht sich zum Seher durch eine lange ungeheure und wohlüberlegte Entregelung aller Sinne. Alle Formen der Liebe, der Leiden, des Wahnsinns; er sucht selber, er erschöpft in sich alle Gifte, um nur deren Quintessenzen zu bewahren.“
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