Der Debütroman von Avni Doshi „Burnt Sugar“, deutscher Titel „Bitterer Zucker" und von mir in der deutschen Fassung gelesen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie jemand sozusagen aus dem Nichts kommend, einen Bestseller schreibt. Denn “Bitterer Zucker“ war 2020 auf der Shortlist des Man Booker Preises 2020 – und das völlig zu Recht! Die Autorin Avni Doshi, (geb. 1982 in New Jersey) ist Amerikanerin und hat einen indischen Migrationshintergrund. Sie besuchte regelmäßig die Familie im indischen Pune (Puna), wo auch die Romanhandlung angesiedelt ist. Die Romanfigur Antara hat sicherlich autobiografische Züge, man darf sie aber nicht eins zu eins zum Leben der Autorin setzen.
Antara ist Künstlerin und Inderin. Sie oszilliert zwischen moderner junger, selbstbestimmter Frau und dem traditionellen indischen Rollenbild einer Frau, Unterordnung, Primat des Mannes und Primat der Schwiegermutter. Dieses Schwanken und Suchen ist primär wirtschaftlicher Abhängigkeit geschuldet. Nun ist Antara schwanger und ihre Mutter dement.
Antara hat einige psychische Probleme, die sie geschickt verbirgt: sie kann sich nicht gut gegen ihre Umgebung abgrenzen, wo hören die anderen auf, wo fange ich an, sie hat Probleme mit ihrem Körpergefühl und dissoziiert von Zeit zu Zeit. Von klein auf leidet sie unter Trennungsangst, da ihre eigene, damals blutjunge Mutter sie als Kleinkind mit in einen Ashram nahm, wohin sie sich aus ihrer lieblosen Ehe flüchtete und in diesem Ashram überließ die überforderte Mutter ihre Tochter Antara mehr oder weniger sich selbst oder den anderen Sektenmitgliedern und wurde die Geliebte des Guru. Mutter und Tochter verbindet ein enges Band, geschmiedet aus Bedürftigkeit und Liebe, einer Hassliebe ähnelnd. Leider ist Antara recht mundfaul; es gelingt ihr nicht, sich und ihre Probleme jemand anderem als den Lesern mitzuteilen, sie hält ihre Umgebung misstrauisch auf Abstand. Ihr Innenleben geht niemanden etwas an.
Der Kommentar und der Leseeindruck:
Die Autorin vermag es in klarer und moderner Sprache, die wuselige Atmosphäre einer indischen Großstadt mitsamt ihrem mannigfaltigen Konfliktpotential einzufangen als da sind: Vernachlässigte Tiere, die Grenzen zur Tierquälerei sind fließend, fremde, dem Westen abergläubisch anmutende Riten und Gebräuche, schwere Gerüche, stets gefährdete (oder nicht vorhandene) Privatsphäre der Unterschicht, mangelnde Hygiene, der Kampf darum, Gesicht zu wahren und als Frau Lebenssinn zu finden. Das alles steckt in den Zeilen der Autorin, die einen eigenwilligen, nicht uninteressanten, phrasenlosen Stil pflegt. Je kleiner die räumliche Distanz unter den Menschen, so scheint es, desto größer wird die innere.
Ohne Lamento, dennoch eindringlich kämpft Antara gegen die Demenz der Mutter an, bis sie aufgibt und sie kontraproduktiv mit Zuckerhaltigem füttert, damit der Verfall schneller vonstatten geht, von ihrem Ehemann und der Schwiegermutter fälscherlicherweise als Affenliebe interpretiert.
Avnis Doshi überzeugt mit der Darstellung der Zerrissenheit der Tochter, deren kindliches Urvertrauen durch frühkindliche Vorkommnisse erheblich aus dem Gleichgewicht geraten ist , was wieder negativ zu Buche schlägt, als sie selber Mutter wird. Eine tiefe Depression nach der Geburt ihres Kindes, geboren aus dem Gefühl von Unsicherheit und Unzulänglichkeit, wird von ihren Angehörigen nicht erkannt. Es bleibt offen, ob Antara die Kraft aufbringt, sich wieder zu fangen. Ob sie weiterhin Kompromisse machen wird oder ob sie aus dem traditionellen „gut anständigen“ Leben ausbrechen wird. Ein Vorbild hätte sie ja. Schließlich erkennt Antara deprimiert, dass das belastende Band zwischen ihr und ihrer Mutter auch durch deren Tod nicht aufgelöst werden wird und gibt auf, gegen die übermächtige Mutterfigur anzukämpfen (Interpretation).
Avni Doshi lebt in Dubai, weitere Werke sind bisher nicht bekannt. Hoffentlich greift sie wieder zu Tinte und Papier bzw. zu Tastatur und Drucker! Mir hat ihr Roman sehr gut gefallen, da und dort hätte ich mir etwas mehr Eindeutigkeit gewünscht.
Fazit: Leicht zu lesender und doch verstörender Blick in das Innenleben einer modernen jungen Frau in der indischen Gesellschaft.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Btb, 2021
Auf der Shortlist des Man Booker, 2020