Ein Jahr Auszeit nehmen. Ein Jahr durch die Welt reisen. Ein Jahr dem zermürbenden Berufsalltag, dem kalten Berliner Grau entfliehen. Das denken sich Anna und Lenning, und so starten sie im Frühjahr zunächst via Madrid in Richtung Lissabon. Doch ihre gemeinsame Reise währt nicht lange.
Auf den Azoren angekommen, ergreift Anna die Gelegenheit mit einer niederländischen Familie auf deren Boot in die Karibik, genauer gesagt, die Insel Sint Maarten weiterzureisen. Lenning soll etwas später nachkommen, es gibt eine Kontaktadresse, wo man sich treffen kann. Lenning will zunächst weiter die Azoren erkunden, sich – angeleitet von Platons „Kritias“ – auf die Spuren der versunkenen Insel Atlantis begeben. Mit dieser Konstellation beginnt der Roman „Lennings Reise“ von Axel Barner. Doch alles kommt anders als geplant. Statt die Reise irgendwann gemeinsam fortzusetzen, wird die Distanz zwischen dem Paar immer größer, geographisch wie innerlich. Während Anna die karibische Exotik und Ruhe am Strand genießt, zieht es Lenning ganz hoch in den Norden, erst nach Grönland, dann sogar nach Island, in eisige Kälte und Ödnis.
Denn Lenning ist ein Suchender, Atlantis eine Art fixe Idee, ein Symbol für diese Suche nach Sinn. Im Grunde sucht er sich selbst, immer wieder ist davon die Rede, dass er sich selbst abhanden gekommen, sich selbst fremd ist. Auch ist er des Lebens in der westlichen Zivilisation überdrüssig; scharfe Kritik übt er an der Lebensweise der Deutschen, ihrem Sicherheitsdenken, ihrer Abschottung, ihrem Anspruchsdenken, ihrer Kälte und mangelnden Lebendigkeit. Auf den Azoren hingegen scheint er dem genau entgegengesetzten Menschentypus zu begegnen, gekennzeichnet von Wärme, Freundlichkeit, Offenheit für Fremde, Großzügigkeit, Bescheidenheit - ganz wie Platon die Bewohner von Atlantis beschreibt. Und doch hält es Lenning nicht lange in dieser menschlichen Gemeinschaft. Er sucht immer extremere, einsamere, unwirtlichere und, ja, auch gefährlichere Orte auf.
Barner führt uns an zahlreiche dieser Orte, der Roman besteht zu großen Teilen aus der detaillierten Schilderung der spezifischen Topographien und visuellen Eindrücke. Auffällig ist, dass es – ganz anders als auf Annas Karibikinsel – keine idyllischen, keine schönen Orte sind, keine menschenfreundlichen. Schroffheit, Kargheit, Dickicht, Staub, Asche und Eis herrschen vor und immer wieder Zeichen vulkanischer Aktivität. Auch auffällig: Fast immer regnet es, fast immer hängen düstere Wolken in den Bergen und zunehmend kommt bittere Kälte ins Spiel. Im starken Kontrast dazu: die spartanische Ausrüstung Lennings mit Rucksack, Zelt und etwas Proviant. All dies scheint dem Konzept der Sinnsuche, der Selbstsuche zu dienen und führt doch dem Ziel lange Zeit kaum näher. Zunehmend stellt sich dem Leser/der Leserin die Frage – die sich auch Anna zu stellen beginnt –, was eigentlich los ist mit diesem Lenning, diesem „Eigenbrötler“, dessen Ernst Anna einst angezogen hatte.
Sie kehrt aus Sorge um ihn schon bald nach Berlin zurück, gibt dort eine Vermisstenanzeige auf und rätselt, was passiert sein könnte. Schließlich erhält sie ein Päckchen, in dem sich Lennings Reisetagebücher, Karten und Filmrollen befinden.
Mit dieser Szene beginnt der Roman. Durch das Lesen der vier Notizbücher folgt Anna Lennings Reisestationen, ebenso wie der Leser. Das hat seinen Reiz, gilt es doch ein Rätsel zu lösen, eine Lücke zu füllen, Lennings rätselhaftes Verschwinden zu erklären. Doch am Ende stellt sich ihr ein neues Rätsel: Wie konnte ein Mensch, den sie liebt und mit dem sie zusammengelebt hat, ihr letztlich so fremd werden, sich so weit entfernen von ihr. Kannte sie Lenning überhaupt?
Gerne hätte auch der Leser mehr erfahren über Lenning, wie es zu dieser Leere gekommen ist, warum er sich verloren hat und so vieles ablehnt. Der Roman bietet viel Außenwelt, man kann lesend an all diese Orte mitreisen und Vieles lernen, umso mehr da es sich gerade nicht um die klassischen vielbereisten Urlaubsziele handelt. Neben dieser Außenwelt hätte man sich jedoch mehr Introspektion und auch mehr soziales Agieren der Hauptfigur gewünscht um ihm als Mensch näherrücken zu können. Zu diesem Eindruck der Distanziertheit passt auch die Tatsache, dass Lenning seine Aufzeichnungen zwar in der Ich-Form verfasst hat, der Text aber nach einem jeweils ersten Satz in die Er-Form wechselt. So bleiben am Ende einige Fragen offen, wie auch der Roman ein offenes Ende hat und Raum für Spekulationen lässt.
Wer das Erfahren und Erleben fremder Welten liebt, wer Aussteigergeschichten mag, wird Gefallen finden an diesem Roman, wer psychologisch motivierte und interagierende Figuren oder die Darstellung menschlicher Beziehungen und Handlungsweisen sucht, wird bei „Lennings Reise“ nicht ganz auf seine Kosten kommen.