Rezension zu "Rückrufaktion" von Aysun Ertan
"Du zu sein, empfinde ich als eine große Strafe"
Wie würde ich reagieren, wenn jemand mir solche Worte an den Kopf wirft? Wie würde ich mich fühlen? Aber was mich am meisten interessiert ist: Würde ich mich selber fragen, ob diese Aussage berechtigt ist? Und eine ehrliche Antwort darauf finden?
Negatives über die eigene Person empfindet man immer als Ungerechtigkeit. Das ist eine ganz natürliche Reaktion und sogar verständlich. Kein Mensch ist sich jederzeit über sein eigenes Tun bewusst, hinterfragt ständig sein Verhalten und überprüft dessen Konsequenzen in seiner privaten oder beruflichen Umgebung. Das wäre ein unmögliches und unrealistisches Unterfangen. In bestimmten Situationen oder bei gewissen Konstellationen lohnt es sich aber, sein Handeln zweimal zu überlegen, bevor man dieses in die Tat umsetzt, oder wenigstens darüber nachzudenken, ob das, was man getan, oder die Entscheidungen, die man getroffen hat, anderen Menschen Schäden zufügen könnten.
Aysun Ertan schreibt, man soll nicht nur mit den Augen sehen, sondern auch mit dem Herzen. Um genau zu zeigen, was sie damit meint, lässt sie Barbara Dorn (nomen est omen), die Hauptfigur ihres neuen Romans "Rückrufaktion", eine Art Revision ihres Lebens durchführen. Die Zuständigen für diese Inspektion sind bereits tot, und sie behaupten, dass sie, wäre Barbara in den entscheidenden Momenten menschlich gewesen, noch am Leben wären.
Aysun Ertans Debütroman "Hoffnungslauf" hat mich tief berührt und hat einen besonderen und dauerhaften Platz in meinem Herz gefunden. Als ich erfahren habe, dass ein neuer Roman von ihr erscheint, konnte ich es kaum erwarten, ihn endlich in meinen Händen zu halten.
Barbara Dorns Charakter unterscheidet sich komplett von dem der namenlosen Protagonistin von "Hoffnungslauf". Ich musste sogar daran denken, dass diese ein mögliches Opfer Barbara Dorns gewesen wäre, hätten sich diese beiden Frauen jemals begegnet, denn Frau Dorn, so die von ihr Gepeinigten, ist herzlos und rücksichtlos.
Nur als Frau Dorn merkt, was sie alles mit ihrer Gefühllosigkeit angestellt hat, wird ihr auch gleichzeitig klar, dass diese Erkenntnis womöglich zu spät gekommen ist.
Zu Barbara Dorn konnte ich trotz schwerer Anschuldigungen ein wenig Sympathie spüren. Die Autorin hat sie mit einer gewissen Bissigkeit ausgestattet, die sie absolut unterhaltsam macht. Auch hat es mir gut gefallen, über die unterschiedlichen Schicksale zu lesen, auf die Barbara angeblich in ausschlaggebenden Zeitpunkten einen folgenschweren Einfluss ausgeübt hat. Wie kam es dazu? Inwieweit trägt Barbara die Verantwortung für das Los ihrer vermeintlichen Opfer?
Eins ist sicher: Man triff sich immer zweimal im Leben. Aber vielleicht auch danach… Deswegen kann es nicht schaden, mit dem Herzen zu sehen, so wie Aysun Ertan sagt. Es könnte Leben retten.