Der Roman: „Wo ist Norden“ beschreibt die Geschichte einer Familie, die in den 1990-er Jahren in einem mecklenburgischen Dorf ein Gutshaus kauft und renoviert und dort ein Café und eine Arztpraxis eröffnet. Alles könnte wunderbar sein – wenn die hohen Renovierungskosten und die Feindseligkeiten einiger Dorfbewohner nicht wären … Der Ich-Erzähler Niketsch, der Bruder des Familienvaters Konrad, kann sich von seiner Familie und von seiner Jugendliebe Marlene – seiner Schwägerin – nicht lösen und verbringt mehr Freizeit in dem Gutshaus im mecklenburgischen Plenskow als in der nahegelegenen Hafenstadt, in der er wohnt und arbeitet. Er lässt das Jahrzehnt der 1990-er Jahre rückblickend Revue passieren. Rückblenden führen auch in die 1980-er Jahre und in die Zeit des letzten Gutsherrn Hugo von Dredow. Der Roman ist wunderschön erzählt und verfügt über einen hohen Spannungsbogen, so dass ich ihn kaum aus der Hand legen mag. Die Atmosphäre der 1990-er Jahre ist so deutlich zu spüren, dass ich mich beim Lesen in diese Zeit zurück versetzt fühle, ebenso in die Zeit der 1980-er während der Rückblende. Die individuellen Personenbeschreibungen lassen die Protagonisten vor meinem geistigen Auge auferstehen. Liebevolle Details machen den Lesegenuss zu einer besonderen Freude: das Rätseln darüber, was die Hand auf dem Wandbild hält (Granatapfel, Ball, Taschenspiegel, Totenschädel?), die astronomischen Kenntnisse des Großvaters Pavel, die Beschreibungen der rauschenden Feste, die Liebe zum Kater Elmar, zur Hündin April, zu den Kranichen und Kiebitzen, den Pflanzen und der mecklenburgischen Landschaft… Am Ende angekommen empfinde ich den Roman als in sich stimmig und rund und große Literatur, freue mich darauf, ihn zu Geburtstagen weiter zu verschenken und hoffe auf einen zweiten Roman der Autorin.
Barbara Handke
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Barbara Handke
Wo ist Norden: Roman
Sommergäste
Wo ist Norden
Wo ist Norden
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Rezension zu "Sommergäste" von Barbara Handke
In der Erzählung: „Sommergäste“ wird ein Sommer am Meer aus der Sicht von Hubert, dem Sohn einer Pensionswirtin, erzählt. Hubert ist etwas speziell und die Handlung der Erzählung liegt schon ein paar Jahrzehnte zurück. Die Autorin fühlt sich feinfühlig in die Gedankenwelt und Sprache des Protagonisten ein und setzt sich in die Zeit zurück, als es noch Waschbecken in Pensionszimmern gab, die Wirtin für alle Frühstück machte und mit der Hand das Geschirr spülte. Die Sommergäste kommen jedes Jahr, kennen sich teilweise untereinander und natürlich die Wirtin und Hubert. Es sind unterschiedliche Typen und Charaktere, die sich zum Teil verstehen und zum Teil nicht mögen. Ich glaube heraus zu hören, dass Hubert Vera am liebsten mag. Dieser Sommer ist anders als sonst und es passiert auch Merkwürdiges und Schlechtes und gegen Ende der Erzählung etwas sehr Trauriges. Zum Schluss merkt Hubert, wer echte Freunde sind, nämlich die, die da sind und helfen. Es ist ein kleines, feines Buch, wunderschön erzählt mit einem liebevollen und zuversichtlichen Blick auf das Leben.
Rezension zu "Wo ist Norden: Roman" von Barbara Handke
Ein Jahrzehnt nachdem Marlene und Konrad das alte Gutshaus in Plenskow kaufen, mit Restaurierungen beginnen und dort mit ihren drei Kindern, Selma, Laure und Jakob, sowie den Eltern Konrads, Rita und Pavel, einziehen, sehen sie sich gezwungen, es wieder zu verkaufen und weiterzuziehen. Beim Umzug bricht sich Nikita, Konrads Bruder, das Bein, was ihn dazu veranlasst, einen Rückblick über die zehn Jahre in dem Dorf anzustellen und in schriftlicher Form festzuhalten.
Kurz nach der Wende entdecken Marlene und Konrad ein altes Gutshaus im mecklenburgischen Plenskow. Kurzerhand kaufen sie es und beginnen mit der Restauration. Konrad richtet sich eine Arztpraxis ein und Marlene gründet ihr Café „Granatapfel“. Nikita, ebenfalls Arzt, hilft bei der Restaurierung und unterstützt das Projekt finanziell. Dabei wurde er von seiner großen Liebe Marlene für Konrad verlassen und müsste außerdem dringlich an seiner Doktorarbeit schreiben. „Doch als ich an jenem Sommermorgen ein federleichtes, getigertes Kätzchen aus der Mülltonne barg, wo es irgendein Mensch – nie weiß man, wer so etwas macht – zum Sterben in einem Schuhkarton deponiert hatte, wurde mir auf einmal klar, wie sehr sie mir fehlten [...]. Meine Wohnung war nur ein Depot, eine Wartungsstätte des Alltags, da ließe sich kein Tier halten; hier in Plenskow aber gab es Platz und drei Kinder, die Ferien hatten. Konrad und Marlene nahmen es hin, in der Haustierfrage übergangen zu werden, die Kinder waren begeistert und ich erleichtert über diesen Schritt auf sie zu.“
Bei der Renovierungsarbeiten wird ein Wandgemälde entdeckt, das von einem Restaurator, Herr Tile, freigelegt wird und ihn sogar zu einem Werk über die Kulturgeschichte des mecklenburgischen Landadels inspiriert. Das Wandbild, auf dem zwei Personen mit einem Pferd zu sehen sind, soll auch für seine Einwohner und Besucher eine wichtige Rolle spielen. Das gesamte Geschehen hindurch werden Mutmaßungen darüber angestellt, was die Person auf dem Wandgemälde in der Hand hält. Jeder sieht etwas Anderes darin, und das, was er sieht, gibt Aufschluss über den Charakter und die Lebenseinstellung der jeweiligen Person. Marlene sieht einen Granatapfel darin, der Symbol für die Fruchtbarkeit des Geistes und schöpferische Gestaltungskraft ist: Dank ihrer Phantasie und Arbeit entsteht das Café „Granatapfel“, das ein großer Erfolg wird. Selma, die älteste Tochter Marlenes, erblickt eine Sonne darin – der Sonne gleich verkörpert Selma Fortschritt, Standhaftigkeit, Ausdauer, Größe und Lebensfreude. Laure, ihre Schwester, ist überzeugt, dass es ein Herz ist – mit äußerlicher und innerer Schönheit sowie mit einer melodischen Stimme und musikalischem Talent gesegnet, personifiziert sie Liebe, Kraft, Durchhaltevermögen und Leben. Pavel sieht eine Trommel: Er sorgt für Bewegung und Veränderung. Agnes, die Schwester Nikitas und Konrads, erkennt eine Granate darin – in einer homosexuellen Beziehung lebend, bricht sie mit gesellschaftlichen Konventionen, was auf ihre Familienangehörigen überraschend oder sogar schockierend wirkt. Elsa, Nikitas spätere Frau, wird auf dem Bild einer Herbstzeitlosen ansichtig, die für den Herbst des Lebens steht. Herr Tile gewahrt auf dem Gemälde zu Anfang einen Apfel, der für Wissen und Macht steht, später aber einen Totenschädel, Symbol für den Tod – ein Memento mori. Das ‚Pflegemittelpaar‛, das das Gutshaus Marlene in regelmäßigen Abständen abzukaufen versucht, sieht konsequenterweise ein Geldsäckchen in der Hand der Figur.
Nikita selbst, der Ich-Erzähler, meint am Anfang einen Ball zu erkennen – er empfindet sich als Spielball der Familie. Er fühlt sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit und einem eigenen Leben und der Sehnsucht nach seiner Familie gekoppelt mit dem Wunsch zu helfen und zu unterstützen. Während eines Familientreffens fragt er sich: „Hatte ich nicht selbst einmal versucht, mein Leben in die Hand zu nehmen, mich unabhängiger zu machen? Warum war ich wieder so tief hineingerutscht in diese unbekömmliche Konstellation? Was hielt mich? Konnte ich nicht zumindest damit aufhören, die Plenskower an erste Stelle zu setzen? Wer setzte mich an erste Stelle?“ Bald darauf stellt Nikita fest: „Mein Leben allein – was war das eigentlich für eine Bußübung, und was hatte es genützt? Oder war es Verstocktheit, wie Konrad sagte? Mutwilliges Abschnüren meiner Lebensader? Diese Fragen entschieden sich, als ich in die Plenskower Dorfstraße einbog und endlich wieder das Gefühl hatte, am Leben zu sein.“
Nach allen Höhen und Tiefen schließen sich langsam Nikitas Wunden und das Wandbild offenbart ihm sein ganzes Geheimnis: „Es war wie ein Fenster in eine frische Anderswelt, in der die Jahreszeiten zusammenfließen, in der die Sterne bei Tage leuchten, in der Tiere, Menschen und Pflanzen miteinander sprechen. Überhaupt erschienen mir die beiden Figuren nicht als Menschen, sondern nur menschenähnlich, denn sie waren alles zugleich: Frau und Mann, Kind und Greis, Faun und Fee. Das Ding in der Hand war, wie ich nun sehen konnte, kein Ball und kein Apfel, sondern eine Sonne, die gerade in den Himmel aufstieg. Selma hatte recht. Wir anderen hatten das Offensichtliche nicht erkannt.“
„Wo ist Norden“ ist ein einfühlsam, lebhaft und phantasievoll geschriebener Roman, den man mit all seinen Figuren ins Herz schließen muss!
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