Barbara Streidl
GIER - Wenn Genug nicht Genug ist
Stuttgart 2022
Rezension von Dietrich Pukas 21.05.2022
Gier gehört zum Menschsein und sie steckt als Todsünde mehr oder weniger ausgeprägt in uns allen. Über sie wurde auch schon frühzeitig nachgedacht: sowohl in der griechischen Antike als ebenfalls in der christlichen Dogmatik. Und sie beherrscht als grundlegende Problematik unser Leben heute mehr denn je, sodass Aufklärung zu ihrer Überwindung geboten erscheint, was Barbara Streidl in ihrem lesenswerten Buch anschaulich und gründlich besorgt.
Gier, Habsucht, Geiz als Antrieb der Menschen: Wir wollen immer mehr ohne Ende und selbst dann, wenn es auf Kosten und zum erheblichen Nachteil Anderer geht. Wir tun es, da es in unserer Wachstums-, Konsum- und Überfluss-Gesellschaft normal und weit verbreitet ist, viel zu haben und trotzdem noch mehr zu wollen. Das gilt im Großen wie im Kleinen: ob ausbeuterische Unternehmer, „Heuschrecken“-Investoren, Miethaie, bestechliche Staatsdiener, Börsenspekulanten, Steuerbetrüger, Sozialhilfe-Mogler, skrupellose Schnäppchenjäger – sie wollen in ihrer Habgier den eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Mitmenschen oder das Allgemeinwohl. Die Autorin erläutert die Gier in uns: woher sie kommt, wo wir ihr begegnen, wie sie uns ergreift und prägt, auf welche Weise wir sie bezwingen könnten, wenn wir überhaupt bereit werden, uns entsprechend zu ändern.
Wie Geiz und Gier in unserer Gesellschaft verankert sind, schildert Barbara Streidl aktuell an markanten Beispielen und aus vielfältigen Perspektiven wie einem illegalen Hausabriss in München angeblich aus „Versehen“, der gerichtlich bislang nicht geahndet werden konnte, oder exemplarisch mit einem riesigen Pflegebetrug, der im bayrischen Gesundheitssystem stattfand, nicht zuletzt durch Ausbeutung und Bereicherung in Leiharbeiter- und Erntehelfer-Skandalen. Aber sie spürt der „neuen Habsucht“ auch in Werbeslogans oder Popsongs nach und zeigt „berühmte Maßlosigkeit“ etwa bei Popstars wie Elvis Presley und Madonna, jedoch ebenfalls bei bekannten Schauspielerinnen, Politikern oder anderen Spitzenpersönlichkeiten auf. Gleichfalls verfolgt sie „Habgier in der Bibel“ und beschreibt Auseinandersetzungen um Habsucht, Gemeinwohl und Nächstenliebe im Alten und Neuen Testament. Obwohl die Grenzen des Wachstums (Club of Rome) bereits vor 50 Jahren sichtbar waren, entwickelte sich unser Gesundheitswesen infolge von Profitgier und Trickmöglichkeiten in Teilen zum „Schlaraffenland für Kriminelle“. Angebahnt bzw. gerechtfertigt werden die zugrunde liegenden unmoralischen „Gierschlund“-Einstellungen und Verhaltensweisen durch ein ungelöstes Problem der Einkommensverteilung wegen Begünstigung der Superreichen und Machtelite. In der Trivial- und Comic-Literatur erweist sich der in Geld badende „Dagobert Duck“ als weltberühmter Vorzeige-Kapitalist und Muster für maßlosen Profit, wobei die Autorin eine Beziehung zu Donald Trump herstellt, während sie andererseits eine diesbezügliche Enthaltsamkeit moderner Moralphilosophie feststellt.
Streidl trägt noch mehr Fälle vor, wie der Wohlstand der Einen den Übelstand der Anderen erzeugt und die Gier ins Grenzenlose treibt wie Billigkonsum und Kaufwahn zum Einen und menschenunwürdige Produktion zum Anderen, etwa bei der Kleiderherstellung in Niedriglohnländern und Wegwerfmentalität oder Fresswelle mittels Supermarkt-Strategien. Die vorgestellten Befunde der Psychologie zu Kaufsucht, Auswüchsen der Gier und Konsumverzicht fallen indes eher dürftig aus. Aber die Autorin beschäftigt sich ausführlicher mit dem Ende der Habsucht, der gesellschaftlichen Akzeptanz, das Begehren zu verändern in Richtung auf die soziale Befriedigung von Bedürfnissen für ein erfülltes, glückliches Leben. Denn viel Geld schafft nicht große Zufriedenheit: „Kein Gegenstand kann die Hohlstellen in einem Menschen auffüllen – nur der Mensch selbst.“ So möchten die Hochvermögenden lieber mehr spenden, als höhere Steuern zahlen. Das „Commons-Prinzip“ stellt eine Möglichkeit dar, durch Gemeingut wie die Weltmeere oder das Teilen von Besitz wie das Sharing von Autos, Fahrrädern, teuren Werkzeugen und Maschinen unter Nachbarn innerhalb einer Gesellschaft ein bereicherndes „Gefühl von genug“ herzustellen und unersättliche Gier zu überwinden. Soziale Ungerechtigkeit berechtigt jedenfalls Zukurzgekommene nicht, etwas zu stehlen und den anderen einfach wegzunehmen. Schließlich gewinnt das Nachhaltigkeitsverständnis angesichts der Klimakatastrophe an Zuspruch und Einsicht, auf Statusobjekte zu verzichten, den Überkonsum von Ressourcen global zu beenden und materiellen Fortschritt in eine sozial-ökologisch gestaltete Zukunft zu überführen. Um dieses Zieles willen ist die Lektüre dieses Buches möglichst allen zu empfehlen.