Manche Kinderfilme brennen sich in die Netzhaut der kleinen Kinderaugen ein. Bekommen eigene Synapsen und werden so für immer abgespeichert. Zusammen mit dem grandiosen Soundtrack, einzelnen Szenen und vor allem dem Grundgefühl beim Schauen. Dieses kaum definierbare Wohlfühlgefühl, dass im Verlaufe des Lebens, des Älterwerdens, selten wieder erreicht wird. 89 Minuten Magie. Eine sich langsam entfaltende Erzählweise, die es so heute gar nicht mehr gibt, nimmt die jungen Zuschauer*innen bei der Hand und entführt sie in das Reich der kindlichen Phantasie. Und dahin geht es auch immer wieder zurück, wenn auch nur wenige Augenblicke, sobald im Radio America gespielt, eine Wiederholung im linearen Fernsehen angekündigt wird, es auf Weihnachten zugeht oder irgendein anderer persönlicherer Auslöser berührt wird. Peter S. Beagle hat mit seinem Roman „Das letzte Einhorn“ und dem dazugehörigen Drehbuch zum gleichnamigen Film ein Meisterwerk, ja ein Jahrhundertwerk des modernen Märchens geschaffen. Weitestgehend verrissen von Kritiker*innen, die das Werk nicht verstanden haben, weil sie schon lange Phantásien verlassen haben.
Das letzte Einhorn sei kitschig, verschnulzt, rührselig oder klischeehaft urteilten die Feuilletonisten, die ihre Meinung zwanghaft entgegen dem „Massengeschmack“ vertreten mussten. Denn beim Publikum war und ist der Film äußerst beliebt. Und das vollkommen zurecht. Peter S. Beagle hat gerade nicht einfach ein Disney-Märchen geschrieben, das mit Eintönigkeit und dem immer Gleichen auf Kommerz getrimmt ist, sondern eine melancholische, ruhige geradezu depressive Erzählung, die dennoch mindestens den Zeitgeist getroffen hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob solch eine entschleunigte Erzählweise heute noch Kinder und Teenager fesseln kann, angesichts der Aufmerksamkeitsspanne von 8 Sekunden, die derzeit einen neuen Schnitt erzwingt. Zumindest die Endzeitstimmung der 1980er Jahre dürfte gegenwärtig allerdings einen ähnlichen Zuspruch erhalten.
Mehr als nur Zeitgeist
Der Film ist sehr nah am Buch. Kein Wunder hat Beagle doch auch das Drehbuch geschrieben. Sogar die meisten Dialoge hat er direkt übernommen, was Buch und Film zu einer ganz fantastischen Symbiose machen. Und damit ist es Zeit, sowohl den Roman als auch den Film wiederzuentdecken und den neuen Generationen zu empfehlen. Denn Das letzte Einhorn ist nicht nur eine Reise nach Phantásien, ins Reich der Magie und des Fantastischen. Nicht nur wunderbare Unterhaltung, sondern mit seiner einzigartigen Erzählweise ein Roman mit einem unaufdringlichen Bildungsauftrag oder einer subtilen Wertevermittlung, wie man sie nur selten zu lesen bekommt. Zugleich ist es der vielleicht erste Schauerroman den Kinder zu lesen bekommen. Früher vermutlich sogar der erste „Gruselfilm“, den sie im Kino oder Fernsehen gesehen haben, wenn sie nicht vorher Mrs. Brisby und das Geheimnis von NIMH gesehen hatten. Das ist heute kaum mehr vorstellbar, wo doch Filme, die in den 1980er Jahren noch als Horrorfilm galten, mittlerweile am Nachmittag gezeigt werden.
Klett-Cotta hat Beagles Das letzte Einhorn als Schmuckausgabe neu aufgelegt und mit einem Vorwort von Patrick Rothfuss versehen. Offenbar war der Verlag der Meinung es müsse ein „aktuellerer“ Fantasy-Autor ein Vorwort schreiben, damit es für heutige Lesegenerationen einen Anknüpfungspunkt gibt. Ich finde so etwas eher irritierend und bekomme dabei das Gefühl, dass der Verlag dem Roman nicht voll vertraut. Zumal das Vorwort komplett überflüssig ist. Wir erfahren nichts über den Roman, keine einzige Zusatzinformation. Das Vorwort kreist ausschließlich um Rothfuss selbst. Das hingegen ist definitiv Zeitgeist.
Lüge, Terror und Tod
Das letzte der Einhörner lebt zurückgezogen, einsam, versteckt vor den Blicken der Menschen in einem kleinen abgelegenen Wald. Als es einem Gespräch zweier Jäger lauscht, hört es, dass es angeblich keine Einhörner mehr geben soll, vielleicht nie gegeben hat. Das Einhorn nur noch ein Märchen. Aufgewühlt von dieser Nachricht begibt sich das Einhorn auf einen „Roadtrip“, eine klassische Entwicklungs- und Abenteuerreise. Eine Expedition zur Erkundung des Rätsels des Verbleibs der anderen Einhörner. Es trifft auf seine Begleiter*innen, den mit sich selbst hadernden Jungzauberer Schmendrick und die Räubersfrau Molly Grue. Zu Dritt begeben sie sich auf die Suche nach Freiheit, Liebe und Wahrheit und begegnen Lüge, Terror und Tod. Nicht gerade die klassischen Disney-Themen. Und genau das macht Das letzte Einhorn so außergewöhnlich, so genial.
Hinter dem Verschwinden steckt ein Monster, der Rote Stier, der die anderen Einhörner im Auftrag Königs Haggards ins Meer getrieben hat. Ein Massenmord, ein Genozid als Aufmacher eines Kinderbuches. Da können selbst die Gebrüder Grimm nicht mithalten. Der grundlegende Spannungsbogen dürfte für einige Ängste und Alpträume gesorgt haben. Gut so. Sind es doch die ganz großen Emotionen, die hier evoziert werden, die nicht einfach abperlen und alles vergessen machen, sondern die Fragen hervorrufen, die nach Antworten verlangen und die weder Film noch Buch geben wollen. Hier sind die Erwachsenen in der Verantwortung. Ein Buch wie das Leben, ein Buch für das Leben.
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Kaum etwas ist aktueller als die Szenen über Sein und Schein, die es im Buch reichlich gibt. Die Menschen wollen lieber den Lügen, der Propaganda und den Fake News glauben, Hauptsache es entspricht ihren Vorurteilen, ihrer Weltanschauung und sie müssen sich nicht anstrengend hinterfragen oder umorientieren. „Geschöpfe der Nacht, ans Licht gebracht“, ein Spruch, der sich mittlerweile verselbständigt hat, aber auf Beagle zurückgeht. Das letzte Einhorn gerät in Gefangenschaft einer Hexe, die dem leichtgläubigen Volk, Fabelwesen in Gefängniswagen präsentiert. Dabei sind fast alle Ungeheuer harmlose alte Tiere, die mit einem Illusionszauber versehen sind. Und selbst dem Einhorn muss ein Horn hinzugezaubert werden, weil die Menschen, das echte Horn nicht (mehr) sehen können. Sie wollen an die Lüge glauben, weil ihnen die Wahrheit abhandengekommen ist.
Und während sie der Lüge nachrennen, entfaltet sich im Hintergrund der Massenhypnose die tödliche, vernichtende Gewalt. Sei es die Harpyie in der Mitternachtsmenagerie oder der Rote Stier im Auftrag des Diktators Haggard. Der Tod lauert in Das letzte Einhorn überall. Tod und Einsamkeit sind überhaupt die tragenden Tropes des Buches. Schwermütig erzählt, von Trauer und Verlust begleitet, müssen die Held*innen sich dem Kampf mit sich selbst, der Einsamkeit und der Lüge stellen. Erkenne dich selbst. Erkenne dich deiner Schlechtigkeit, Mensch. Um sie zu überwinden. Wenn du es vermagst. Schaffst du es nicht, bist du des Todes. Immer und immer wieder. Und sei es nur des sozialen Todes, des Verbleibs in der ewigen Einsamkeit.
„Doch sehe ich ein Einhorn, dann ist es wieder so wie an jenem Morgen in den Wäldern, und ich bin wahrlich jung, mir selbst zum Trotz, und alles ist möglich in einer Welt, die solche Schönheit birgt.“
Gnothi seauton
Mehr geht nicht, mehr Modernes Märchen mit Tiefgang kann man gar nicht schreiben. Und dabei ist alles noch dermaßen gut verpackt und erzählt, dass den Meisten gar nicht auffällt, was für ein Meisterwerk ihnen da gerade vorgesetzt wurde. Denn der Lese- wie Zuschau-Flow ist selbst ein Teil der Illusion. Wollen wir überhaupt die tieferliegenden Schichten erkennen? Wollen wir uns mit uns selbst auseinandersetzen? Oder nehmen wir das einfach als kitschig wahr, um es abwehren zu können, es beiseitezulegen ohne weiter darüber nachzudenken und unseren Kindern zu erklären, was da alles geschieht.