Rezension zu "Blutsbrüder" von Ernst Haffner
Ein Mann, der in seinem Leben ein einziges Buch geschrieben hat; ein Buch, das in einer Auflage von 5.000 erscheint und wenig beachtet, wenn auch gelobt, wird, ein Buch, das man ein Jahr später zusammen mit anderen „missliebigen“ Büchern öffentlich verbrennt. Als jener Mann Jahre später in eine Behörde zitiert wird, verliert sich seine Spur. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist – oder: Sollte es jemand wissen, ist er nicht damit hausieren gegangen. Kein Foto ist von diesem Mann überliefert, man weiß nur, dass er einige Jahre in Berlin gemeldet war und als Journalist gearbeitet hat, vielleicht auch als Sozialarbeiter. Und dass er eben dieses eine Buch geschrieben hat. Der Mann hieß Ernst Haffner, sein Buch (der Autor selbst bezeichnete es als Sammlung von Reportagen), 1932 im Verlag von Bruno Cassierer veröffentlicht, „Jugend auf der Landstraße Berlin“, oder, in der Wiederveröffentlichung schlicht „Blutsbrüder“.
Ludwig, Willi, Johnny und einige Jungen mehr, sind die Protagonisten dieses Romans. Sie verbringen ihre Tage in Kneipen, auf der Suche nach Arbeit oder illegalen Gelegenheiten, sich ein paar Mark zu verdienen, prügeln sich und saufen, verkaufen ihre Kleidung für ein paar Groschen direkt vom Leib und sich selbst als Stricher, kaufen ihrerseits Sex bei Huren, leben von Tag zu Tag, immer auf der Hut – vor der Polizei, Vätern - so vorhanden bzw. noch an ihren Söhnen interessiert – oder Mitgliedern rivalisierender Banden, hoffen auf einen trockenen Platz für die Nacht. Cliquen heißen diese Zusammenschlüsse, die ihnen Schutz und Familienersatz sind, die Anführer dieser Cliquen sind die Bullen. Wer seinen 21. Geburtstag feiert, wähnt sich aus dem Schneider: Fürsorge und Erziehungsheim ade!
Haffner erzählt die Geschicke der Jungen im Stil der damals so genannten Neuen Sachlichkeit. Hart, direkt, lakonisch, treffende Beobachtungen, die sich manchmal in pointierten Nebensätzen verstecken.
Frauen kommen in diesem Buch nur in Statistenrollen vor: als Cliquenliebsche, jugendliche Delinquentin, Prostituierte, Verkäuferinnen, Zigarettenmädchen, Konfitürentantchen, Schlafwirtin, Stenotypistin vor Gericht. Romantische Beziehungen existieren nicht, bestenfalls erkaufte Liebesdienste. Der Alltag dieser Jungen lässt keinen Platz für Romantik.
Ein Sumpf ist das, in dem sich diese Jungen im Berlin der Weimarer Republik zwischen Alexanderplatz und Schlesischem Bahnhof bewegen; der oft beschworene Glamour des gerade vergangenen Jahrzehnts, der “Goldenen Zwanziger Jahre“, so sie denn jemals so „golden“ waren, kommt hier nicht vor. Hier zählt die harte Lebenswirklichkeit junger Männer, die der Staat in dieser Zeit allzu gerne in Erziehungsheime sperrt, einer Generation, die zu parieren hatte, wenn es denn sein musste, mit Gewalt.
Es ist von einer traurigen Plausibilität, dass man einen Mann wie Haffner, dessen Buch schon im Vorgängerstaat nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurde, wie wohl in einer Demokratie erscheinen durfte, im Nationalsozialismus nicht unbehelligt dulden wollte. Nachdem man Haffner vor die Reichsschrifttumskammer zitiert hatte, verliert sich seine Spur, heißt es. War da niemand, der nach dem nicht einmal Vierzigjährigen gefragt hat, könnte man meinen? Oder war es schlicht nicht opportun, zu fragen? Man möchte im Rückblick vielleicht gern glauben, dass Ernst Haffner sich abgesetzt hat. Die sog. „Vagabundenbewegung“ findet in „Blutsbrüder“ einen Widerhall – Willi flieht aus einer Erziehungsanstalt im Rheinland und gelangt als „Blinder“ auf den Achsen eines D-Zugs von Köln nach Berlin. Und er schreibt von einem Mann, der seiner Zimmerwirtin nur ein schmutziges Hemd und seine Papiere hinterlassen hat. Da man offenbar jedoch nie wieder von Ernst Haffner gehört hat (sein jüdischer Verleger starb 1941 im Exil, nachdem Teile seiner Familie nach England emigriert waren), auch nicht, nachdem der Wind sich gedreht hatte, ist diese Möglichkeit vielleicht nicht ausgeschlossen, aber wahrscheinlich – leider – unwahrscheinlich.
PS: Das Hörbuch ist von Ben Becker treffend eingelesen worden, der damit auch auf Lesetour war.