Ben Okri, 1959 in Nigeria geboren, verbrachte seine Kindheit dort und in England. Er studierte Literaurwissenschaft und veröffentlichte Lyrik, Erzählungen und Romane. Sein wohl bedeutendstes Werk "Die hungrige Straße", gerne auch "der Nigeria-Roman" genannt, erschien 1991, und 1994 erstmalig in deutscher Sprache, für das er mit dem Brooker-Prize und dem Premio Chianti Ruffino ausgezeichnet wurde.
"Am Anfang war der Fluss. Der Fluss wurde zu einer Straße, und die Straße verzweigte sich über die ganze Welt. Und da die Straße einst ein Fluss war, war sie immer hungrig."
Der Beginn einer afrikanischen Schöpfungsgeschichte?
In jedem Fall mischen sich in diesem Roman die Geister unter die Menschen. Azaro ist so ein Geisterkind, das sich entscheidet, das Leben seines Ursprungs zu verlassen und sich mit seinen irdischen Eltern auf die hungrige Straße des Lebens zu begeben. Die Verbindungen zur Geisterwelt bleiben aber bestehen, und so lebt auch Azaro nicht nur in der nicht näher bezeichneten, aber offensichtlich nigerianischen Stadt, kurz vor der Unabhängigkeit des Landes, sondern er lebt genauso in der Geisterwelt.
Seine Eltern sind arme Menschen: sein Vater schlägt sich als Tagelöhner und Lastenträger durchs Leben; die Mutter ist Straßenhändlerin. Beide sind abhängig von ihren kleinen Tagesverdiensten, und es gibt mehr als einen schlechten Tag, der ihnen das Leben erschwert und an den Rand ihrer Existenz bringt. Eine Krankheit Azaro`s treibt sie nahezu in den Ruin, und immer wieder ist Azaro schuld, ein unliebsamer Esser zu sein, der den Eltern auf der Tasche liegt. Oder der duech sein auffälliges Verhalten (seine direkte , eigenwillige Art und Offenheit) zu viel Aufmerksamkeit erregt in der Nachbarschaft, wodurch die Familie in Verruf kommen könnte. Azaro eckt an in seinem Umfeld. Für manche ist er kein Kind mehr, für andere jemand, der nur Unglück anzieht und anderen Schaden zufügt. Azaro kann es selten jemandem recht machen, schon gar nicht seinem Vater, der mit aller Strenge gegen ihn vorgeht. Die Geisterwelt sendet zunehmend Boten aus, um Azaro zu entführen, um ihn wieder zurückzuholen und zu retten. Der Vater interpretiert dies als Ungehorsam und bestraft den Jungen immer wieder mit brutalen Mitteln, der sich in seinen Augen nirgendwo nützlich macht.
Massive Streitereien im Slum zwischen Hausbesitzern und Mietern, Gläubigern und Schuldnern, Kranken und Gesunden, Politischen und Unpolitischen lassen weder Ruhe noch Harmonie zu. Im Kleinen und Privaten finden Kriege statt, wie sie sonst auf der politischen Weltbühne zu sehen sind. Dann wieder Feste, die die massiven Alltagssorgen verdrängen wollen. In wellenförmigen Ereignissen wiederholt sich das Leben unter den Ärmsten der Armen immer wieder. So mancher will aus diesem Strudel und Kreislauf ausbrechen. So auch Azaro`s Vater, der sich zuerst zu einem Boxerhelden entwickeln will und dabei den Sinn für jegliche Realität verliert. .. dann als Politiker.... als das Viertel durch den Konkurrenzkampf der Partei der Armen und der Partei der Reichen durchgeschüttelt und ins Chaos geworfen wird. Es scheint kein Entrinnen zu geben für die Menschen im Slum.
Und dennoch sind die zyklisch angelegten Erzählungen so facettenreich in ihren Personen, die die unterschiedlichsten Überlebensstrategien entfalten, sich in ihrem Leben einzurichten und um Verbesserungen zu kämpfen, dass man ein durchaus lebendiges Bild bekommt von dieser kleinen Welt, die immer noch verwoben ist mit Naturreligion, Ahnenkultur und Geistern , und gleichzeitig mit der weißen Welt konfrontiert wird, die eher auf Intervention und Zerstörung setzt, als einen wirklichen Fortschritt herbeiführt.
Ein Kaleidoskop von kreisenden Geschichten, märchenhaften Fragmenten, psychologischen Betrachtungen, skurrilen Humoresken und philosophischen Beleuchtungen, die für uns in unserer streng genormten Welt sehr ungewöhnlich und irreal erscheinen. Eine Welt, in die es sich aber durchaus lohnt, einzutauchen und den Existenzkampf zu beobachten, der trotz aller Verzweiflung und Not auch die Schönheit im Häßlichen und Verborgenen durchscheinen lässt.
Ein durchaus empfehlenswertes Buch über die Wunder und Rätsel des Lebens, über Lebenslust und Elend unter der glühenden afrikanischen Sonne! Und einem Autor, der den Mut hat, uns mit völlig fremden Strukturen und eigensinnigem Schreibstil in eine Welt einzuführen, die nicht die unsere ist, und die wir auch gerne verleugnen, weil sie mit unserer sogenannten "entwickelten" Zivilisation keineswegs konform geht. .