Rezension zu "Das Deutsche Reich von 1914" von Bernd F. Schulte
Die "Hamburger Studien zu Geschichte und Zeitgeschehen" bieten nun in der Reihe II ebenfalls einen Aufsatzband, wie zuvor schon in der Reihe I (von 2000-2008). Hier finden sich Artikel zu Fachfragen der Diskussion um den Ersten Weltkrieg, auch zu breit gespannten Beobachtungen zur Zeitgeschichte der jüngeren und jüngsten Zeit; wie zur inneren Entwicklung der Bundesrepublik und der Geschichte der DDR, aber auch akuten Problemen, wie jenen um Europa in der Finanz-, Euro- und Bankenkrise. Hier geht es zunächst um das hier gebotene aktuelle Bild zum Auftakt des Krieges von 1914.
100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geht es um dessen Anlaß und tiefere Ursachen. Von der Einleitung, in deren Zentrum eine hier erstmals veröffentlichte Denkschrift des Legationsrates an der Kaiserlichen Botschaft in Wien - Dietrich von Bethmann Hollweg für den Reichskanzler, aus dem Juni 1914 steht - wird die besondere wirtschaftliche Schwäche Österreich-Ungarns, als auslösender Faktor für den Entschluß zur Risikopolitik des Deutschen Reichs im Juli 1914 (nach Schulte: "Policy of Pretention"), geliefert. Neben der Tatsache, dass, angesichts des verlorenen Nachlasses des Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, jedes Stück Papier zu 1914 von besonderem Wert ist, macht diese Denkschrift verständlich, dass der Reichskanzler, nach dem unvollständigen Riezler-Tagebuch (Ders., Die Verfälschung des Riezler Tagebuchs, Frankfurt-Bern- New York 1985; Pierre Barral, Rezension zu Ders., Weltmacht durch die Hintertür, in: Revue historique 2005), derartig verschwommen/unheilvolle Äußerungen tätigen konnte, als er am 5. Juli 1914, unter den Linden von Hohenfinow, mit seinem Assistenten Kurt Riezler, den Tag der Entscheidung ausklingen ließ.
Die Entscheidung war gefallen, der Stein im Rollen. Vor welchem weltanschaulichen Spektrum es zu diesem Entschluß kam, zeigt ein Blick auf den, hier erstmals vorgestellten, Briefwechsel zwischen Theobald von Bethmann Hollweg und dem Universalhistoriker Karl Lamprecht, dessen Schulfreund. Es wird entwickelt, wie Deutschland ungebrochen - auch nach 1909 - Weltmacht werden wollte. Es bildete die Intention, dass quasi, in einer Stufenfolge unter zunehmender Intensität, Rußland von England und Frankreich zu trennen sei. England auf Deutschland zu zu zwingen wäre (Bethmann Hollweg, Febr. 1911). Das Band zu den Westmächten werde darauf Deutschland Bewegungsspielraum für weitere weltumspannende Aktivität gewähren.
Erst im Krieg (während des Winters 1914/15; Bethmanns einsames Weihnachtsfest an der Front) wurde dann deutlich, dass dieses Ziel allein durch den Sieg über England erreichbar wäre (Scheitern der Vorkriegspolitik, 1909-14). Nun, im Krieg der Waffen, bedeutete diese Erkenntnis ein komplettes "renversement des frontières", der Grundausrichtung Bethmannscher Außenpolitik. Zuvor sollte nach Lamprecht, durch wirtschaftliche Kulturpolitik, durch den Zusammenschluß eines um Deutschland gravitierenden Europa mit China (damals 400.000 Millionen und genauso wichtig wie der Mitteleuropa-Plan Bethmanns, Naumanns, Rathenaus), der Aufstieg des europäischen Kulturraumes zur Weltmacht (gegen, oder in Nachfolge auf, England) gelingen.
Im Krieg ging dann Lamprecht, im Auftrage des Kanzlers, nach Belgien um hier das Zentralproblem eines künftigen, gegen das Inselreich gerichteten, Europa unter deutscher Führung zu explorieren. Hier, in Belgien entschied sich der Erste Weltkrieg. So die Erkenntnis Moltkes (Febr. 1913), Tirpitz' und Bethmanns). Eine belgische Küste in deutscher Hand würde das Britische Empire nicht ertragen (Moltke). Darin waren sich in Berlin General- und Admiralstab (Armee und Flotte) einig. Dahin zielte - in seltener Einmütigkeit - der bislang als militaristisch apostrophierte deutsche Aufmarsch- bzw. Kriegsplan seit spätestens 1903/04 (enge Interdependenz der Ämter aus Politik und Militär, Ders., Deutsche Policy of Pretention, Norderstedt 2009) .
Keinesfalls ohne Vorstellungen gingen demnach die deutsche Führungseliten aus Wirtschaft, Politik und Militär (Fritz Fischer, Bündnis der Eliten, Düsseldorf 1978) in den Krieg von 1914. Die Gewißheit herrschte, dieser werde kommen. Eine andere Form der Entscheidung wurde in dieser Welt von Gestern - in einer Art Betriebsblindheit - nicht gesehen.