Eine psychosomatische Schmerzklinik, so etwas ist die „grüne Kastanieninsel“. Hier werden nicht nur chronische Schmerzen behandelt, sondern auch zahlreiche psychologische und kreative Therapien eingesetzt, um eine Schmerzlinderung zu erreichen und die Patienten in ihrer Persönlichkeit zu stärken. Wir erleben die „Landung“ des Mittfünfzigers Jean-Paul Gris, der seit über zwanzig Jahren unter chronischen Schmerzen leidet und endlich einen Ausweg finden will.
Der Protagonist erzählt in der Ich-Form, wird aber manchmal von einem Erzähler aus dem Off in kurzen Sequenzen „observiert“. Er nennt den Protagonisten „Monsieur Gris“, charakterisiert ihn also als einen „grauen Herrn“ oder „ergrauten Herrn“. Für fünfundsechzig Tage, unterbrochen durch einige Heimaturlaube, lässt sich Monsieur Gris auf das Geschehen im Klinikum ein. Er akzeptiert die Behandlungen, zu denen auch Arztgespräche gehören, denn er ist dankbar dafür, dass die Klinik eine ganzheitliche Ausrichtung hat und dass Schmerzen nicht nur als schulmedizinisches Problem angesehen werden. Das Ambiente mit seinen Spielregeln (zu denen auch das schlechte Essen mit billigem „Harry“-Brot und die im Vergleich dazu köstlichen Kaffeespezialitäten in der Cafeteria gehören) schafft eine berechenbare Außenwelt, unter deren Oberfläche es aber brodelt.
Eingehüllt in die Blase des Therapiealltags, macht Gris Erfahrungen nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen Menschen. Besonders fasziniert ihn eine Dame in Schwarz, die er nicht nur anziehend findet, sondern mit der er bereichernde Gespräche führt, ja, die das Schreiben seines Buches in der Fiktion wie auch in der Realität beflügelt haben muss, denn sie wird in einer Vorbemerkung des Romans erwähnt. Gris hat auch eine Ehefrau, Lila, mit der er ebenfalls harmonische und zugewandte Stunden verbringt, wenn er Urlaub hat. Diesen Konstellationen wohnt zugleich eine hintergründige Ironie inne, die den Rehabilitationsverlauf im Allgemeinen und seine Auswirkungen auf die Lebensführung in Frage stellt. Das gilt auch für die in das Geschehen involvierten Frauengestalten. Die Bezeichnung von Nebenfiguren als „serbische Stimme“ und als „schnelle Inge“ verdeutlicht die bruchstückhafte Wahrnehmung anderer Menschen in solchen Kliniksistuationen, wo man nur einigen wenigen wirklich näher kommen kann.
Aufgrund der wechselnden Perspektiven, der unterschwelligen Ironie und der verschiedenen Realitätsschichten (die Dame in Schwarz taucht in der Vorbemerkung des realen Buchs, aber auch als fiktive Figur im Erzählgeschehen auf), wirkt der Roman auf den ersten Blick sehr kryptisch. Bei näherem Hinsehen ist er aber durchaus deutbar. Er ist in die drei Abschnitte „Die Landung“, „Die Metamorphose“, „Die Auswilderung“ gegliedert, wobei der erste Abschnitt, der die Ankunft und das Überleben auf der „Kastanieninsel“ zum Gegenstand hat, mit Abstand der längste ist. Es ist abzuwarten, welche inneren Wandlungen Monsieur Gris daraufhin vollziehen und wie er sich nach dem Verlassen des Schonraums der Klinik in der freien Wildbahn des Alltagslebens weiter entwickeln wird. Eine ausführlich erzählte und hintergründige Zauberberg-Variante aus dem 21. Jahrhundert.