“Begreifen Sie doch, mein Arbeitgeber wird Ihnen keine Menschenfleischbratwurst verkaufen, und damit hat sich’s!“ sagte Stephan. „Sie können etwas von unserem bestehenden Vorrat kaufen oder gehen! Ich will nicht unhöflich sein, aber die meisten Kunden hätten den Hinweis darauf, dass wir keine Gelegenheiten zum Kannibalismus bieten, schon vor Minuten verstanden.“
(Jeff Strand: Bad Bratwurst)
STORIES
Jeff Strand: Bad Bratwurst
Obwohl „Prechtels Bratwurst“ bekanntermaßen die beste Bratwurst in ganz Deutschland herstellt, sind die Geschäfte des Wurstherstellers stark rückläufig. Da schlägt ihm sein Angestellter vor, etwas an dem Rezept zu ändern, möglicherweise anderes Fleisch zu verwenden, das billiger zu heben ist. Vielleicht Menschenfleisch. Schockiert weist der Eigentümer diese Möglichkeit von sich, als kurz darauf ein vermeintlicher Kunde den Laden betritt und ihm hervorragendes Fleisch ungenannter Herkunft anbietet um Prechtels Bratwurst zu neuen Höhen zu führen.
R. C. Doege: Leere Häuser
Es ist sein 37. Geburtstag, als Leo in einer Bar seinen Vater trifft. Sein Vater, der in dieser Bar gerade 30 ist, Leo mit nach Hause nimmt, zu sich und seiner Mutter, in ein Leben, das so nie gewesen ist. Dann eine Erinnerung an seine Jugendfreundinnen. Und an ein seltsames Ritual. Dann das Erwachen.
Thomas Ballhausen: Kleine Zeichenkunde
Der ungenannte Erzähler betritt den Platz inmitten der Stadt, um den sich die verschiedenartigen Häuser aus allen Teilen des Reiches gruppieren. Heute soll der Komet über der Stadt zu sehen sein. Und tatsächlich ziehen die Kometen gut sichtbar über den Himmel. Ein Schauspiel, das Erinnerungen in dem namenlosen Zuschauer weckt.
Paul Finch: Tok
Drei Frauen wurden in ebensolvielen Nächten in der Wohnsiedlung „The Graces“ erdrosselt. Grund genug für Don Presswick, gemeinsam mit seiner Frau Bernadette, nach seiner Mutter zu sehen, die dort alleine in ihrem Haus lebt.
„Vielleicht war es ein Scherz. Vielleicht gab es solch komische Erzeugnisse wie dieses an jedem Marktstand von Banjul bis Johannesburg zu kaufen. Doch in Wahrheit war nichts Komisches am Halsband, das die Puppe trug, die aus menschlichen Zähnen zu bestehen schien, während ihr ledernerer Tanga, dessen frontaler Beutel offensichtlich eine kleine Garnitur männlicher Genitalien beherbergte, eine Spur Realität zu viel war.“
(Paul Finch: Tok)
MEINUNG
Auch die inzwischen fünfte Ausgabe des österreichischen Visionarium-Journals – ein kleines Jubiläum – besticht zunächst wieder mit dem bekannten, schmucken Jugendstil-Layout in das Grafiker Jörg Vogeltanz diesmal einen in Ehren ergrauten Gentleman einmontiert hat, um den sich von hinten bedrohlich wirkende Krabbenarme schlingen um diesen möglicherweise mit unvergesslichen Träumen zu versorgen. Ganz dem Motto der Ausgabe entsprechend.
Wie stets konnte Herausgeber Dr. Nachtstrom wieder ganz unterschiedliche namhafte, sowie noch zu entdeckende AutorInnen gewinnen, die den Geschichtenanteil bestreiten. Als da wären der hinreichend bekannte Autor Jeff Strand (GRABRÄUBER GESUCHT, SARG ZU VERKAUFEN, BENJAMINS PARASIT, FANGBOYS ABENTEUER), der Thrillerautor Paul Finch (Mark-Heckenburg-Reihe), der bekennende Philip K. Dick-Fan R. C. Doege und der Literaturwissenschaftler Thomas Ballhausen. Letzterer knüpft mit seiner – zugegeben herausfordernden – Geschichte an seine Geschichtensammlung IN DUNKLEN GEGENDEN (Edition Atelier, 2014) an, von der es im Heft auch zwei Exemplare zu gewinnen gibt. Eigenständig dagegen präsentiert sich Jeff Strands skurrile Mär vom Metzgermeister, den offenbar jeder überreden möchte, auf Menschenfleisch als Bratwurstfüllung zurück zu greifen. R. C. Doege spielt, ganz in Anlehnung an sein Vorbild Dick, mit dem schleichenden Realitätsverlust seiner Hauptfigur. Als Kontrast bietet Paul Finch eine geradlinige urbane Monstergeschichte klassischer Couleur. Das macht Spaß und man könnte sich TOK auch sehr gut als Film vorstellen. Wie es schon Tradition ist, wird jeder der Geschichten von einer exklusiven Grafik begleitet, die diesmal Anna-Maria Jung, Johann Peterka und Axel Weiß beisteuerten. Die Übersetzungen (BAD BRATWURST, TOK) von Bernhard Reicher wirken etwas gestelzt, doch immer noch angenehm zu lesen und dieser Stil passt sehr gut zu den skurrilen Sujets.
Im Magazinteil unterhält sich Bernhard Reicher mit dem Autor Thomas Ballhausen über Entstehung, Stil und Hintergründe von dessen Kurzgeschichtenband IN DUNKLEN GEGENDEN (siehe oben). Als Ergänzung zu dem Buch absolut empfehlenswert.
Interview Nummer 2 führt Hr, Reicher mit einem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, der lieber ungenannt bleibt, über dessen Werdegang bei der Bundeswehr und beim Geheimdienst sowie seine durch ein Nahtoderlebnis ausgelöste Hinwendung zum Schamanismus.
Dazwischen ein Essay von Dr. Nachtstrom über die Wirkung der (eigenen kindlichen) Fantasie und Vorstellungskraft und der Erfahrungen mit dem Werk des selbsternannten Gurus. Kultführers und Autors und Carlos Castaneda (DIE LEHREN DES DON JUAN), der in den 1970er und -80er Jahren fragwürdige Popularität erlangte.
FAZIT
Die deutliche Affinität der Artikel zu parawissenschaftlichen Themen ist natürlich Geschmackssache, doch kann das jeder Leser für sich entscheiden. Fakt ist, dass auch Band 5 der Reihe nicht enttäuscht und das hohe Niveau – inhaltlich wie optisch – gehalten werden kann.