Cover des Buches Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte (ISBN: 9783803132154)
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Rezension zu Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte von Berta Marsé

Rezension zu "Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte" von Berta Marse

von HeikeG vor 16 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Eine Bombe mit Zeitzünder Die spanische Autorin Berta Marsé debütiert erfolgreich mit ihrem Erzählband " Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte" Es ist oft ein kleiner Tropfen, der das Fass zum Überlaufen oder eine Situation zum Eskalieren bringt. Und manches Mal entsteht aus einer unbedachten Äußerung, einem falsch verstandenen Satz oder der Lüftung eines lange verschlossenen Familiengeheimnisses ein gewaltiger Tsunami, der beim Auftreffen auf das Land alles in seiner Umgebung mitreißt und zerstört. Der unorthodoxe Titel des Erzählbandes "Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte" kündet zumindest von gewissen Ungewöhnlichkeiten und Skurrilitäten. Doch das spanische Original ist weit weniger aberrant. "En jaque" - zu Deutsch "im Schach" - ist einem Begriff aus dem rund tausend Jahre alten Brettspiel entnommen und bezeichnet die Situation des hilflosen Königs, dessen ausweglose Spielposition den Verlust der Partie andeutet. Von der Aporie menschlicher "Figuren" erzählen auch die sieben Kurzgeschichten, mit denen Berta Marsé, die Tochter des großen spanischen Autors Juan Marsé, 2006 in Spanien debütierte. Nach der Lektüre dieser großartigen Erzählungen ist man versucht, den deutschen Titel auszublenden. Er tut dem Buch und dessen feinfühligem Inhalt nicht gut. Auch wenn die 39-jährige Autorin ein wunderbares Gespür für Situationskomik und eine humorvolle Darbietung auszeichnet, so offenbaren ihre im gutbürgerlichen Milieu angesiedelten Geschichten tiefgreifende Tragödien. Eben jener Tropfen zu viel lässt stabil und sicher scheinende Grundfeste zusammenbrechen wie ein Kartenhaus und nicht selten sind Kinder die Leidtragenden. Nach und nach enthüllt Marsé den "Hinterhalt", "wie die ineinander verschachtelten Würfel in einem Baukastenspiel für Kleinkinder." So zum Beispiel in der titelgebenden Geschichte "Die Zaubermuschel", in dem ein sogenannter Übervater (hier arbeitet Mama und Daddy bleibt bei seinem ein und alles zu Hause) von einem Moment auf den anderen eine psychisch-moralische Wandlung durchfährt und vom liebenden zum gewalttätigen Vater konvertiert. Was war passiert? Saßen doch beide - einen Tag vor Patricias Geburtstag - eben noch harmonisch am Tisch. Töchterchen hält die traute Familie mit Buntstiften fest, der Vater hingegen versucht ein Charakterbild seiner Tochter in einem Schreiben an die zuständige Schulbehörde zu zeichnen. Aber mit der zeichnerischen Darstellung hat Patricia offensichtlich noch ihre Schwierigkeiten. Ein eigenartiges Gebilde schwebt über Mamas Kopf. Auf Nachfrage wird das Geheimnis gelüftet. Es ist Mamas Zaubermuschel, die sie am Strand gefunden hat. "Und wenn du mir nicht glaubst, dann frag Onkel Edu. Er weiß, dass Mamas Muschel zaubern kann, deshalb will er sie immer von ihr. Und Mama hat sie ihm schon oft gegeben!" Peng! Das saß. Nur eine Vermutung kann hier richtig sein. Die Situation eskaliert mit der aus dem Büro heimgekehrten zaubermuschelbesitzenden Gattin zusehends. Das Schlimme daran, Patricia versteht überhaupt nicht, was sie da eigentlich gesagt hat, warum sie in ihrer Unschuldigkeit auch noch brutal bestraft wird. Ähnliche fatale Erschütterungen, die einer diffusen trügerischen Harmonie vorausgegangen sind, offenbart Berta Marsé in allen folgenden Erzählungen. Sie berichtet von einem Schildkrötenmalwettbewerb, aus dem sich ein mit einer Ideenblockade geschlagener Grafiker Inspiration erhofft. Und tatsächlich fördern die Kleinen fantasievolle Echsen zu Tage. Bis, ja bis eine Zeichnung zu deutlich an ein erigiertes männliches Geschlechtsteil erinnert. Oder auf einer Paddelboottour die adrette Hostess ihrem kurz vor dem Durchbruch stehenden Fußballamateur ein so schier unsagbares Geständnis macht, was wiederum eine Menge weiterer erstaunlicher Enthüllungen aus den Tiefen der verschleierten Erinnerungen nach sich zieht, dass man meint, der "Rocky Horror Picture Show" beizuwohnen. Bildhaft und plastisch skizziert und seziert Berta Marsé ihre Protagonisten. Die Nähe zu ihrem Autoren-Vater ist ihrem schriftstellerischen Debüt anzumerken. "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" wäre ein treffender Vergleich. Doch schon oft hat sich genetische Nähe ins Gegenteil gewandt. Ein Übervater kann auch hemmend sein, was schon mancher junge Schriftsteller erfahren musste. Doch Berta Marsé hat sich wohltuend gelöst. Vielleicht kündet ihre Geschichte "Ursprung" gar davon. Die schwangere Ana dringt "Schlag um Schlag" zu den Jugendsüden ihres Vater durch. Der erfährt dadurch nicht nur, dass er einen unehelichen Sohn hat, sondern dass jener auch noch der Vater des mit Down-Syndrom geschädigten Ungeborenen seiner Tochter ist und beide demnächst heiraten wollen. "Es heißt, dass Familiendramen, die Schläge, von denen eine solche Institution getroffen werden kann, ihren Ursprung oft in feinen alten Fissuren haben, die irgendwann auf einen Schlag alles zum Einsturz bringen. Und es heißt auch, dass es vielerlei Anzeichen für so eine nahende Katastrophe gibt: ein fast unmerkliches Beben, flüchtige fremdartige Gerüche, unsichtbare Stimmen hinter einem.", sinniert Anas Vater und hat damit Berta Marsés Duktus aufs Feinste beschrieben. Denn diese hat auch in ihren Texten Fährten ausgelegt. Kleine unscheinbare Worte, die beim aufmerksamen Lesen bereits den fatalen Köder erahnen lassen, der unweigerlich zum "Knock Out" führt. Einer Lösung all ihrer kumulierenden Dramen verweigert sich die Autorin jedoch konsequent. Für die großartige Übertragung aus dem spanischen Original ins Deutsche, ohne die "humorvolle Schärfe" in irgendeiner Art und Weise zu mildern, steht Angelica Ammar. "Hunde, Muscheln, Sehnsüchte, Enttäuschungen, Ungewissheit.", ist einer der letzten Sätze in der "Zaubermuschel", der stellvertretend über allen Erzählungen der spanisch schreibenden Katalanin stehen können. Berta Marsé verpackt ihre familiäre Dramatik in einem wundervollen Humor, der zwar dadurch die Kontraste des Gezeichneten mildert, dessen inhaltlicher Schärfe jedoch keinen Abbruch tut. Wie ein roter Faden webt sich das Thema "Familiäre Geheimnisse" durch alle äußerst frisch und dynamisch erscheinenden Geschichten. Aus einer hochexplosiven Mischung, aggressiv und ironisch zugleich, voller Sprachwitz und Situationskomik auf der einen Seite, tiefes Entsetzen und menschliche Abgründe auf der anderen, ist der Autorin ein glanzvoller erster "Seitenhieb" gelungen. Mehr davon!
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