Am 13. März 1964 wird im New Yorker Stadtteil Queens die 30-jährige Catherine „Kitty“ Genovese überfallen, vergewaltigt und durch Messerstiche getötet. Der Täter, Winston Moseley, Büroangestellter, verheiratet, Vater zweier Kinder, kein Ersttäter, wird wenige Tage darauf festgenommen. Ein misstrauischer Nachbarn hatte die Polizei verständigt, der den schwarzen Mann dabei beobachtet hatte, wie der einen Fernseher aus einem Haus schaffte.
Der traurige Fall erlangte wenig später Berühmtheit, mündete sogar in der Benennung als Genovese-Syndrom oder Bystander-Effekts, weil - angeblich - 38 Nachbarn Zeugen des Überfalls auf die junge Frau gewesen sein sollten und es fast alle nicht oder erst zu spät für nötig befunden haben sollten, die Polizei zu informieren oder gar der Frau direkt beizustehen.
Warum? Aus Angst um die eigene Person? Weil keiner sich in eine vermutete Auseinandersetzung unter einander Bekannten einmischen wollte? Man darauf vertraute, dass bestimmt andere aktiv werden würden?
Basierend auf diesem tatsächlich passierten Mord hat der französische Autor Didier Decoin den im Original 2009 (2011 auf deutsch) veröffentlichten Roman „Der Tod der Kitty Genovese“ geschrieben.
Erzähler ist ein Mann, der seinerzeit mit seiner Frau im Haus gegenüber von Kitty Genovese gewohnt hat (später zieht er weg, und zwar in die Nähe eines guten Angelgewässers). Noch in Queens, schreibt er eigentlich einen Roman übers Angeln.
Das gut situierte, intellektuelle Paar (sie ist Übersetzerin) war in der betreffenden Nacht nicht zu Hause, wird aber dennoch in den Fall hineingezogen, als sie der Journalist aufsucht, der Wochen später, als längst andere Themen die Gazetten bestimmen, den Artikel veröffentlichen wird, der die Gewalttat gegen Kitty Genovese erst richtig bekannt macht.
Der Roman ist teils berichtend nüchtern erzählt, teils aber auch durchaus opulent, zum Beispiel da, wo in einem Satz über 10 Zeilen von Jack Kerouac die Rede ist, der im selben Viertel wie der Täter gewohnt und „unzählige Versionen von Unterwegs“ überarbeitet hatte. Kerouac hatte nichts mit dem Fall zu tun, es tut auch „eigentlich“ nichts zur Sache, wer er ist und woran er gearbeitet hat - und doch ist er Teil dieses Umfelds und der Zeit und bereichert das Setting dieses Romans (dem man zudem mit gut 150 Seiten nicht gerade den Vorwurf der Geschwätzigkeit machen kann).
Ich hatte Schwierigkeiten, in den Roman hineinzukommen, weil er durch die nüchternen, zum Teil, wie es scheint, rein zitierenden Passagen auch nicht allzu gefällig aufgebaut ist. Als diese anfänglichen Schwierigkeiten mit der Montage aber erst einmal überwunden waren, habe ich den Roman gerne gelesen. Der Erzähler, auch wenn sein Interesse „eigentlich“ bei Fischen liegen mag, scheut sich nicht, in die handelnden Charaktere zu schlüpfen, einschließlich der des Opfers und des Täters. Das kann heikel sein, gelingt ihm (und damit Decoin) aber geradezu beklemmend gut.
Eine Szene, die ich geradezu für ein Musterbeispiel von „Show don’t tell“ halte: Das Paar überlegt, ob sie Genovese vielleicht in einer Vorführung zweier Kurzfilme (Jean Genet und Andy Warhol) gesehen haben könnten, die sie letztendlich in Handschellen verlassen mussten, da diese Filme ihres Inhalts wegen ganz offensichtlich gegen herrschende Moral verstießen. Dieses und andere Details bewirken, dass man dem Roman sofort sowohl den Ort als auch die Zeit abnimmt: So muss es gewesen sein, das New York der 1960-er Jahre.
Für einen Krimi halte ich den Roman nicht, geschweige denn ein nacherzähltes Stück True Crime. Er enthält allerdings Passagen, die gerade wegen der offenen, reflektierten, kaltblütigen Art des Täters und des Vermögens des Autors, aus seiner (angeblichen) Sicht zu erzählen, mitunter schwer erträglich sind.
Heute weiß man: Kaum etwas ist vollständig so, wie es zunächst behauptet wird. (Dass der Täter ausgerechnet durch einen vermuteten Einbruch einem Nachbarn auffiel (wenn es um Eigentum geht, passt immer einer auf, wenn eine Frau um ihr Leben kämpft, eher nicht?!), ist ein Detail, das man einem Autor eines fiktiven Romans wahrscheinlich nicht abnehmen würde.) 38 Augenzeugen des Mordes an sich waren es nicht, wohl aber etliche Augen- und Ohrenzeugen des ersten Angriffs. Und davon verließen sich die meisten auf andere, die an ihrer Stelle handeln sollten (während andere Schwierigkeiten hatten, einen Notruf schnell genug abzusetzen; die zentrale Nummer 911 wurde erst nach dem Mord an Kitty Genovese eingerichtet). Auch zeigt der Roman, dass Verkehrungen der Tatsachen mitunter länger im kollektiven Gedächtnis bleiben als deren wahrer Kern.
Der Franzose Didier Decoin ist Jahrgang 1945 und hat 1977 den Prix Goncourt für einen Roman namens „John l’enfer“ („Das Fenster zur Hölle“) erhalten, der ebenfalls in New York spielt. Er kommt aus dem Journalismus und hat neben Romanen auch Drehbücher geschrieben.