Inwiefern sind wir als Menschen von den unverarbeiteten Belastungserfahrungen und erlittenen Verletzungen unserer Vorfahren geprägt? Was wissen wir wirklich über unsere Eltern, Großeltern, Urgroßeltern? Über wie viel und über welche Themen der Vergangenheit wurde und wird der Mantel des Schweigens gehüllt? Welche Familiengeheimnisse bestehen? Welche Traumata haben die Familienangehörigen erlitten? Welche dunkle Vergangenheit haben sie möglicherweise? Was ist das „Erbgut“, das wir von Generation zu Generation weitertragen? Inwiefern beeinflusst es unser Jetzt, unser Ich, unser Leben, unsere Handlungen, Denkweisen, verinnerlichten Glaubenssätze, unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen, unsere körperlichen sowie seelischen Schmerzen? Und ist es überhaupt möglich sich von diesem „Erbe“ zu befreien? Zu einem ganzheitlichen, eigenen „Ich“ zu werden?
Es ist die Auseinandersetzung mit diesen Fragen, zu denen Bettina Scheiflinger in ihrem Debütroman anregt. Das spannende Thema der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Für viele von uns ist die eigene Familiengeschichte vermutlich bruchstückhaft, fragmentiert, unvollständig, verzerrt, basiert auf Erinnerungen und Auslassungen, leisen Zwischentönen, mündlichen Überlieferungen, schriftlichen Dokumenten, eigenen Projektionen, Flashbacks, Leerstellen oder auch auf konspirativem Schweigen – ein scheinbar unlösbares Puzzle. Äußerst authentisch ist somit auch der Erzählstil der Autorin, der diese Phänomene eindrucksvoll widerspiegelt. Ein Figurenensemble bestehend aus vier Frauen, einem Mann, einigen familiären Nebenfiguren aus mehreren Generationen. Ihre Schicksale und Lebensläufe, verortet zwischen der Schweiz, Österreich und partiell auch Italien, lernen wir in kurzen, nicht chronologischen Kapiteln kennen. Die Multiperspektive ist das bestimmende narrative Element. Im Fokus eine Ich-Erzählerin, die auf der Suche nach sich selbst ist, nach Bewältigungs- und Verarbeitungsstrategien und die wir in verschiedenen Lebensphasen begleiten. Eine Geschichte, - nein, mehrere Geschichten – verbunden durch Motive und Themen, die sich immer wieder, ähnlich oder auch in einer Neu-Übersetzung, einer Re-Inszenierung zeigen: Mutterschaft, Schwangerschaftsabbruch, Verlusterfahrungen, Brustkrebs, Körperlichkeit, eine Nazivergangenheit, Kriegsgefangenschaft, Rassismus, Heimatverlust, Identitätssuche.
Thematisch und sprachlich entspricht „Erbgut“ genau der Literatur, die ich gern lese. Doch aufgrund der Erzählstruktur hat mich die Autorin leider zu oft verloren, denn das Lesen erfordert enorme Konzentration und Aufmerksamkeit. Auch einen familiären Stammbaum hätte ich mir gewünscht. Ich mag Bücher, die es Leser*innen nicht zu einfach machen, die fordern. Aber hier bleibe ich leider mit dem Gefühl zurück, dass die Figuren und ihre Schicksale schon bald verblassen, weil „das Lösen des familiären Puzzles“ während des Lesens aufgrund der eigenwilligen Narration zu sehr im Vordergrund stand. Das ist sehr schade. Nichtsdestotrotz bin ich sehr gespannt, was da seitens der Autorin noch folgt.