Rezension zu "Memoiren eines getäuschten Mädchens" von Bianca Lamblin
Bianca Lamblin hat viele Jahre geschwiegen; erst als die Briefe an Sartre und das Kriegstagebuch zu Beginn der 1990er Jahre erstmals publiziert wurden, wurde sie mit ihren alten Erinnerungen konfrontiert. 1992 trat die Biographie der amerikanischen Hochschulprofessorin Deirdre Bair über Simone de Beauvoir hinzu, in der ebenfalls über Bianca Lamblin – entgegen aller Absprachen mit Simone de Beauvoir – unverhüllt Informationen preisgegeben wurden.
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Lamblin erzählt mit unverhohlener Bitterkeit über ihre Beziehung zu Sartre und Simone de Beauvoir. Simone lernte sie, Lamblin damals noch 17-jährig, als Lehrerin an ihrem Gymnasium kennen. Man kommt sich privat näher, findet sich sympathisch. Bald lernt sie auch Sartre kennen, mit dem Simone de Beauvoir zu diesem Zeitpunkt bereits zusammen war. ‚Zusammen‘ jedoch auf ihre sehr individuelle Weise: getrennt von Tisch und Bett, in späteren Jahren mit besonders hervorgehobenem Schwerpunkt auf ihrer intellektuellen Verbundenheit. Simone de Beauvoir äußert in sehr seltenen Momenten gegenüber Lamblin Enttäuschung über Sartres Art der Zuneigung, der Qualität seiner Sexualität und dem Unvermögen, treu zu bleiben. Ein bisschen klingt es, wie die stille Resignation über unabänderbare Tatsachen, die später – aus Selbstschutz – zu etwas Besonderen erklärt werden, aber eigentlich dem Erklärenden, hier Simone de Beauvoir, überhaupt nicht gefallen. Immer wieder schreibt Lamblin jedoch, wie Simone de Beauvoir in der Rückschau die Beziehung Sartre-Lamblin-Beauvoir verfälscht, verklärt und verzerrt habe. Hinzu kommen Beobachtungen Lamblins über die Einstellung Simone de Beauvoirs über Ehe, Liebe, Kinder. Vieles ihrer ‚emanzipierten Einstellung‘ ist die Folge eigener Enttäuschung und einem schleichenden Rückzug in eine eigene Welt, die zugemauert wurde, um sich vor weiteren Angriffen und Verletzungen durch Mitmenschen abzuschirmen. Zwar konnte nur aus dieser Enklave Simone de Beauvoirs vielbeachtete Philosophie entstehen, für den Menschen, der dahinter stand, war die Realität jedoch mit sehr großer Enttäuschung und massiven emotionalen Entbehrungen verbunden. Lamblins Aufzeichnungen sind erschütternd, weil sie meine bisherigen Eindrücke der Beziehung Sartre-de Beauvoir in ein anderes Licht rücken. Selbst Deirdre Bairs Biographie wird relativiert, obwohl ich annahm, die Autorin hätte bereits richtig recherchiert und das Gefundene korrekt bewertet. Dieses Buch ist daher ein sehr erschütternder Bericht, spannend zu lesen, reich an Fakten und biographischen Eindrücken über Sartre, Simone de Beauvoir und das intellektuelle Paris der 1940-1960er Jahre.