Rezension zu "Das Café" von Bill Thrall
Steven Kerner fällt mit seinen 34 Jahren plötzlich aus allen Wolken seines bisher (äußerlich) erfolgreichen Lebens (toller Job, wundervolle Ehefrau und eine Tochter, die sehr wahrscheinlich auf keiner schiefen Bahn landen wird). Als er am Abend des 11. März heimkommt, ist seine Frau Lindsey aufgebracht. Alle ihre Anrufversuche tagsüber waren gescheitert, Steven hatte vergessen, die gemeinsame Tochter Jennifer wie vereinbart von der Schule abzuholen, woraufhin die Elfjährige über eine Stunde vor der Schule wartete und zusehen musste, wie alle anderen Kinder abgeholt wurden. Die geplante Vater-Tochter-Zeit fiel einmal mehr Stevens zeitraubendem Job zum Opfer. Im Verlauf der Diskussion rastet Steven aus. Nicht zum ersten Mal. Am Ende packt Lindsey ihre Koffer und verlässt mit der Tochter das Haus, weil sie Angst vor ihrem Mann hat.
Als ihm Andy Monroe begegnet, ein seltsamer Exzentriker, der sehr persönliche Dinge aus seinem Leben zu wissen scheint, findet Steven endlich jemanden, mit dem er reden kann. Sie unternehmen einige Spritztouren mit Andys Oldtimer und Andy nimmt Steven mit in „Bo's Café“, wo Steven noch weitere seltsame Gestalten kennenlernt, die aber eines gemeinsam haben: Eine gewisse Leichtigkeit strahlen sie aus. Sie scheinen mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Kann Steven diese Nähe, die zwischen den regelmäßigen Café-Gästen vorhanden zu sein scheint, für sich selbst zulassen?
Begleitet von Andy und vielen Gesprächen wagt Steven es, den Ursachen seiner Wut auf den Grund zu gehen und macht sich auf die Suche nach sich selbst. Die Wut schützt ihn natürlich vor Verletzungen. Wird er es schaffen, sie loszulassen?
Beim Lesen (vor zweieinhalb Jahren, muss ich gestehen) wünschte ich mir so manches Mal, auch einen Ort wie „Bo's Café“ in meiner Nähe zu haben. Jetzt lese ich den Roman zum zweiten Mal und bin einmal mehr froh darüber, dass es Menschen gibt, die auch heutzutage keine Scheu haben, heiße Eisen anzupacken und in lesefreundlichen Text zu übersetzen. Der Roman ist fast schon therapeutisch zuweilen, ich bin immer wieder berührt und denke immer wieder nach, ob es Parallelen gibt zu meinem Leben oder nicht.
Eine der großen Fragen, die eine Rolle spielen, ist die nach Gnade versus Religiösität.
“Will heißen, dass Gnade ein Geschenk ist, das nur Leute annehmen können, die nicht religiös ticken. Sie sind die Einzigen, die es gebrauchen können. Religiöse Leute betrachten Gnade meist als etwas für Weicheier und Warmduscher. Also versuchen sie, ihren inneren Müll mit eigener Willenskraft und mit Hartnäckigkeit loszuwerden. Religiösität lässt sich als eine Horde Menschen beschreiben, die versuchen, mit begrenzter Macht unmögliche Aufgaben zu bewältigen, und sich dabei die ganze Zeit vormachen, dass es funktioniert.” (Cynthia zu Steven, S. 137)
Eine weitere, wieviel es einem Menschen bringen mag, aus Selbstschutz immer wieder wütend zu werden. Kann man Offenheit wagen und Nähe zulassen in einer Welt, in der immer der Stärkere zu gewinnen scheint? Wird man nicht zu verletzlich, wenn man sein Innerstes anderen Menschen zeigt? Und vor allem als Mann – kann man sich Schwäche in irgendeiner Form überhaupt leisten?
In „Bo's Café“ läuft vieles anders, als wir es in unserer Gesellschaft gewohnt sind.
Der Roman wird aus der Sicht von Steven erzählt. Durchgängig chronologisch und im Präsenz in einer recht sachlichen, nüchternen Sprache.
Online findet Ihr eine Leseprobe.
Wem „Der Schrei der Wildgänse“ oder „Die Hütte“ gefallen hat, der kann sicher auch mit dem „Café“ viel anfangen.
(Ursprünglich im Blog veröffentlicht: 22.07.2016)