Cover des Buches Vertauschte Leben (ISBN: 9783865917492)
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Rezension zu Vertauschte Leben von Birgit Gassmann

Der Schwerpunkt ist hier die Religion, nicht die Handlung des Romans

von Code-between-lines vor 10 Jahren

Rezension

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Code-between-linesvor 10 Jahren

Zum Inhalt: Nach einem Unfall steht Familie Bender plötzlich vor einer unfassbaren Wahrheit: ihr Sohn Tim, der Musterschüler und begnadete Klavierspieler, auf den sie so stolz sind, ist nicht ihr leiblicher Sohn. Schnell stellt sich heraus, dass Tim am Tage seiner Geburt im Krankenhaus mit einem anderen Jungen vertauscht wurde. Und schnell ist auch klar: dieser andere Junge, der leibliche Sohn der Benders, führt ein ganz anderes Leben als Tim, seitdem er nach einer Hirnhautentzündung, die er als kleiner Junge hatte, an einer körperlichen und geistigen Behinderung leidet. Die Konsequenzen dieser Wahrheit, der Umgang der beiden so unterschiedlichen Familien wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt: Tim, für den nichts mehr so ist, wie es einmal war und der sich zwischen seinen beiden Familien zerrissen fühlt, ist der Protagonist der Handlung; auch aus der Sicht seiner „bisherigen“ Eltern Gabi und Gerd werden einige Kapitel erzählt; daneben kommen seine leiblichen Eltern sowie seine „neue“ große Schwester Katrin zu Wort, die sehr religiöse Menschen sind und aufgrund ihres Glaubens und ihrer Einstellung zum Leben ganz anders an diese Erfahrung herangehen als Tim und die Familie, die er bisher gekannt hat…

Eigene Meinung: Das Buch behandelt zentrale und wichtige Fragen wie: „Wer bin ich? Was macht mich aus? Was macht die Wertigkeit eines Menschen aus? Welche Rolle spielt das Schicksal? Alles spannende Fragen, doch der Lesegenuss wurde für mich sehr schnell durch die sehr einseitige und eindeutig religiöse Ausrichtung des Buches getrübt. Zwischen Tim Bender, dem rationalen Kopfmenschen, der den menschlichen Verstand mit seinem Motto „Ich denke, also bin ich“ über alles stellt und seiner leiblichen Familie, den Liegers, in deren Leben der Glaube an Gott eine zentrale Rolle spielt, entwickeln sich ausführliche Diskussionen über die Existenz eines Gottes, seine Motivation, Gutes und Schlechtes in der Welt zuzulassen sowie die Rolle der Menschen in der Welt. Diese Abschnitte waren mir in ihrer Ausführlichkeit zu viel. Über ganze Abschnitte hinweg hatte ich das Gefühl, die religiösen Betrachtungen seien der eigentliche Sinn und Zweck des Buches, der Rest der Geschichte mehr oder weniger Beiwerk, nur Mittel zum Zweck.

Besonders gestört hat mich dabei, dass die Autorin durch die Gegenüberstellung der religiösen Familie Lieger einerseits, die mit ihrem Glauben an Gott zufriedene und glückliche Menschen sind, die einander Gutes tun und verstanden haben, worum es im Leben wirklich geht - und auf der anderen Seite Tim, der die Existenz eines Gottes leugnet und an einem sinn- und liebesentleerten Leben krankt, so massiv ihre eigene Wertvorstellungen mit einbringt und dem Leser nahezu aufdrückt. Nicht zu übersehen in vielen Kapiteln die zugrundeliegende Einstellung, dass der Glaube und das Vertrauen in Gott der einzig richtige Weg ist, während die Nicht-Gläubigen von einem toleranten und weltoffenen Christen zwar toleriert, aber doch aufgrund seiner emotionalen und moralischen Unzulänglichkeit und Verkommenheit bemitleidet werden.

Je mehr sich diese Passagen mehrten, umso mehr habe ich darüber nachgedacht, das Buch abzubrechen, da mir der Inhalt zu dogmatisch und einseitig wurde. Besonders widerstrebt haben mir dabei die Passagen, in denen populärwissenschaftlich aufgearbeitete naturwissenschaftliche Grundlagen als Bestätigung religiöser Ansätze gedeutet werden: So legt die Autorin Katrin Liegers vermeintliche Hinweise dafür in den Mund, dass die Lebewesen alle gleichzeitig von einem Gott erschaffen wurden und sich möglicherweise nicht durch Evolution entwickelt haben: „…Es ist doch schon irgendwie seltsam, dass jede überholte Theorie früher oder später abgelöst wird, nur an der Theorie, dass auf keinen Fall ein Gott diese Welt geschaffen hat, wird um jeden Preis festgehalten. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?“ Bei diesen Abschnitten haben sich mir als Naturwissenschaftlerin nahezu die Fußnägel aufgerollt. Dass der Gerth Medien Verlag ein christlicher Verlag ist, war mir leider vorher nicht bekannt, sonst hätte ich vermutlich besser einschätzen können, was auf mich zukommt. Schade. Die grundsätzliche Konzeption der Geschichte ist nämlich sehr interessant.

Ein weiterer schwieriger Punkt: der Protagonist, Tim Bender, ist völlig unglaubwürdig. Immer wieder hatte ich beim Lesen den Eindruck, dass die Autorin keinerlei Bezug zu einem Jugendlichen in dieser Altersklasse hat, und sich zur Kompensation einer ganzen Reihe zum Teil mächtig überzogener Klischees bedient. Dadurch wird er so überzogen als gnadenloser „Streber“ dargestellt, dass er mir unsympathischer nicht hätte sein können. Die Tatsache, dass David von Tim durch das ganze Buch hinweg als „sabbernder Idiot“ bezeichnet wird, macht die Sache nicht besser. Die Autorin versucht, einen zerrissenen Jugendlichen, der zwischen zwei Familien steht und mit der Situation völlig überfordert ist, zu schildern – in meinen Augen jedoch schildert sie einen arroganten, selbstgerechten Schnösel, der seinem Vater mitunter in Punkto Menschenverachtung in nichts nachsteht. Auch Tims Entwicklung ist in meinen Augen absolut nicht nachvollziehbar, so wird aus dem Streber, dessen beste Freundin seine Mutter, seine Bücher und die Musik zu sein scheinen, plötzlich ein Junge, der kaltblütig einen Mord plant – in meinen Augen völlig an den Haaren herbei gezogen.

So bleibt mein Fazit: ein interessantes Thema, welches mir aber nach kurzer Zeit viel zu einseitig und mitunter schon nahezu dogmatisch abgehandelt wurde. Die „Interpretationen“ halbseiden ausgeführter biologischer Grundlagen waren haarsträubend. Keine Leseempfehlung von mir!

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