Rezension zu "Tote zahlen mehr" von Bodo Steinberg
𝑩𝒐𝒅𝒐 𝑺𝒕𝒆𝒊𝒏𝒃𝒆𝒓𝒈, 𝑻𝒐𝒕𝒆 𝒛𝒂𝒉𝒍𝒆𝒏 𝒎𝒆𝒉𝒓. 𝑭𝒓𝒊𝒔𝒄𝒉𝒆𝒔 𝑩𝒍𝒖𝒕 𝒇ü𝒓 𝒂𝒍𝒕𝒆𝒔 𝑬𝒓𝒃𝒆, 𝒏𝒆𝒕-𝑽𝒆𝒓𝒍𝒂𝒈 2024
Wann habe ich das letzte Mal einen Krimi gelesen, der mir das Gefühl gegeben hat, die Abgründe der Menschheit hautnah zu erleben? Die Antwort lautet „nie“. Will man aber tatsächlich in die Abgründe tauchen, ist Bodo Steinbergs Tote zahlen mehr der perfekte Kandidat. Ein Krimi, der so tief in die Berliner Unterwelt abtaucht, dass man fast den Drang verspürt, sich die Hände danach zu waschen.
Schon der Titel lässt nichts Gutes ahnen. Tote zahlen mehr? Sieht so aus, als hätte Bodo Steinberg erkannt, dass im 21. Jahrhundert die Leichenberge nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sind. Und so stapelt er in seinem Buch munter weiter: Mord, Erpressung, Prostitution, Drogen- und Waffenhandel – die Palette der Schwerkriminalität ist so umfassend, dass man sich fragt, ob Steinberg hier eine To-do-Liste für das perfekte Verbrechen oder einen Kriminalroman verfasst hat.
Protagonist dieses Sündenfalls ist Kriminalhauptkommissar Dieter Seitz, der mit seiner lakonischen Art und Weise nicht nur die Ermittlungen leitet, sondern auch uns Leser in die Geschichte hineinzieht. Seitz ist kein strahlender Held, sondern ein Antiheld, dem das Berliner Pflaster ebenso vertraut ist wie der Geschmack von bitterem Kaffee und noch bittereren Enttäuschungen. Und genau das macht ihn so authentisch – ein bisschen wie ein Kreuzberger Iggy Pop, nur mit mehr Dienstmarke und weniger Heroin.
Steinberg gelingt es, die Charaktere in einer Plastizität darzustellen, die ihresgleichen sucht. Dieter Seitz wirkt nicht wie eine literarische Figur, sondern wie der Typ, dem man in der U-Bahn lieber aus dem Weg geht, weil man weiß, dass er Geschichten auf Lager hat, die einem die Nächte rauben könnten. Auch die übrigen Protagonisten, ob sie nun zur Polizei oder zum organisierten Verbrechen gehören, sind so greifbar und gleichzeitig so verstörend, dass man sich fragt, woher Steinberg diese Menschen kennt – und ob man nicht froh sein sollte, dass sie nur auf Papier existieren.
Nun, ich muss gestehen, dass ich persönlich kein großer Freund von Krimis bin, in denen Clankriminalität, Mafia oder dergleichen im Mittelpunkt stehen. Meine literarischen Präferenzen neigen eher zu den feinsinnigen Werken einer Dorothy Sayers oder der klassischen englischen Detektivgeschichte, in denen weniger die Brutalität, sondern vielmehr die Raffinesse des Verbrechens im Vordergrund steht. Doch genau hier liegt die Überraschung: Trotz meiner Vorbehalte hat mich Steinbergs Werk von Anfang an gefesselt. Es ist die Kombination aus intensiver Spannung, der überzeugenden Darstellung des Berliner Untergrunds und der facettenreichen Figuren, die diesen Krimi für mich zu einem Erlebnis gemacht haben, das ich nicht missen möchte.
Der Schauplatz Berlin wird in diesem Buch fast zu einer eigenen Figur. Steinberg zeichnet ein Bild der Stadt, das düsterer nicht sein könnte. Vergessen Sie das Berlin der Touristenbroschüren, hier erleben wir ein Berlin der Hinterhöfe, der dunklen Ecken und der unsichtbaren Grenzen, die nur die kennen, die sich dort tatsächlich bewegen. Das zweite Setting, die Halbinsel Krim, fügt der ohnehin schon angespannten Atmosphäre eine weitere Ebene der Beklemmung hinzu. Hier wird die Geschichte fast schon zu einem Agententhriller, der die Grenze zwischen Realität und Fiktion auf erschreckende Weise verschwimmen lässt.
Doch was wäre ein Krimi ohne Spannung? Steinberg versteht es meisterhaft, diese kontinuierlich zu steigern. Wenn nach einem Drittel des Buches die Handlung ins Privatleben von Seitz übergreift und seine 12-jährige Nichte entführt wird, nimmt die Geschichte eine Wendung, die einem den Atem stocken lässt. Manchmal fühlt es sich an, als ob Steinberg einen auf eine Reise in die Hölle mitnimmt – und man ist bereit, jede Station mitzugehen, so faszinierend ist der Abgrund, den er zeichnet.
Steinbergs Stil ist, sagen wir es offen, nichts für schwache Nerven. Bildhaft, ja, aber auch schwer. Manchmal wirkt die Sprache so, als hätte der Autor die Sätze in einem literarischen Mörser zerstoßen und mit den scharfen Kanten auf uns losgelassen. Es ist diese Härte, diese Unnachgiebigkeit, die das Buch so einzigartig macht. Wer leichte Unterhaltung sucht, ist hier fehl am Platz – aber wer bereit ist, sich dieser sprachlichen Wucht zu stellen, wird mit einer Lektüre belohnt, die tief ins Mark geht.
Im letzten Drittel wird es dann emotional. Und mit emotional meine ich: schmerzhaft. Steinberg zeigt uns, dass selbst in den tiefsten Abgründen der Kriminalität noch Platz für Menschlichkeit ist – wenn auch in einer Form, die uns mehr Fragen als Antworten hinterlässt. Die Geschichte endet nicht einfach; sie bleibt hängen, wie ein Schatten, der sich nicht vertreiben lässt.
Fazit: Mit Tote zahlen mehr hat Bodo Steinberg einen Krimi vorgelegt, der nicht nur die Nerven, sondern auch den Verstand herausfordert. Das Buch ist nichts für Zartbesaitete, aber für alle, die sich trauen, den Blick hinter die Fassaden zu wagen, ist es eine absolute Empfehlung. Steinberg entführt uns in eine Welt, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse so sehr verschwimmen, dass wir uns am Ende nicht mehr sicher sind, auf welcher Seite wir selbst stehen. Ein intensives, beklemmendes und zugleich faszinierendes Leseerlebnis, das man so schnell nicht vergisst – ob man will oder nicht.