Dieser Satz klingt wie eine Einsicht. In Wirklichkeit dokumentiert er jedoch nur die eine Seite extremer Ansichten, zwischen denen Bonita Norris fortwährend hin und her schwankt. Man liest ihn während Norris die Überwindung der letzten achthundert Höhenmeter bei ihrem Aufstieg zum Mount Everest beschreibt. Um den völligen Irrsinn zu verstehen, der sich an diesem Berg abspielt, reichen folgende Zeilen aus dem gleichen Kapitel: "Während ich hochsah, erkannte ich eine gepunktete Linie aus Lichtkegeln, die in den Nachthimmel kletterten. Ihre gerade Linie verriet, dass diese goldenen Punkte keine Sterne waren, sondern von Stirnlampen stammten. … Wir nahmen unseren Platz am Ende dieser Linie ein und mussten uns daher der Geschwindigkeit unserer Vorgänger anpassen."
Das passiert wohlgemerkt in der Todeszone des Mount Everest, in der man nicht lange überleben kann. Selbst mit all der Ausrüstung, die man mitschleppt oder die Einheimische für die aus ihrer Sicht wohlhabenden Bergsteiger aus dem Westen vorher in diese gigantischen Höhen getragen hatten. Sauerstoffflaschen etwa. Dieses für alle Seiten gewinnbringende Geschäftsmodell zu verurteilen, ist nicht mein Thema hier. An diesem Berg zeigt sich etwas viel Interessanteres, nämlich, dass Wahnsinn und Willenskraft, Anpassungsfähigkeit und der unauslöschliche Hang zum Nachahmen in der menschlichen Psyche sehr dicht beieinanderliegen. Nicht zu vergessen ist natürlich in diesem Zusammenhang auch der egomanische Ehrgeiz.
Was in aller Welt bewog beispielsweise Reinhold Messner im Mai 1978 diesen Berg ohne zusätzlichen Sauerstoff zu erklimmen? Immerhin riskierte er dabei sein Leben oder Folgeschäden des Sauerstoffmangels. Heute erregt er sich über den "Massentourismus" an diesem Berg, den er selbst mit diesem Wahnsinn mitprovoziert hat. Dass es ihn ärgert, wenn seine Leistung an Gewicht verliert, wo nun scheinbar jeder, selbst ein Blinder, diesen Berg besteigen kann, würde er sicher nie zugeben. Man trifft auf eine solche Erregung jedoch immer wieder, etwa bei Naturfotografen, die erst mit ihren Büchern Leute auf die Idee brachten, genau an die Stellen zu reisen, die sie in Büchern dieser Leute gesehen hatten. Sich exklusiv fühlenden Menschen möchten einerseits ungestört ihrem Hobby nachgehen, und brauchen dafür aber andererseits auch aus finanziellen Gründen viel Publicity, mit der sie in der Folge Bewegungen hervorrufen, die ihre geliebte Exklusivität zerstört und sie dann wütend macht. Diesen eigentlichen Grund ihrer Wut können sie natürlich nicht zugeben.
Bonita Norris behauptet im Untertitel ihres Buches, dass sie am Mount Everest zu sich selbst fand. Wirklich verstanden habe ich das nicht. Völlig klar ist jedoch, dass sich jeder Mensch, der sich dieser Tortur unterwirft, zwangsläufig eine erhebliche innere Veränderung erfahren muss. Bei Norris kann man das gut nachvollziehen. Ihre Schilderungen des wochenlangen Aufenthalts am Berg und des letzten Aufstiegs beschreiben vermutlich sehr gut die Gemütslage vieler Besteiger während dieses aberwitzigen Kraftakts, dessen Sinn man nicht unbedingt verstehen muss. Unabhängig von jeder Euphorie, die man zweifellos verspürt, wenn man es geschafft hat, bleibt die Tatsache, dass man dabei sein Leben riskiert hatte. Norris war offensichtlich ausreichend vorbereitet, mental fit und an die Höhe gut angepasst, wozu ständiges Pendeln zwischen den einzelnen Camps auf verschiedenen Höhen wesentlich beiträgt. Dadurch wird der Körper gezwungen, ausreichend viele rote Blutkörperchen zu produzieren, ohne die man in dieser gewaltigen Höhe schnell kollabieren kann. Man fährt also nicht einfach mal so in den Himalaya und steigt auf einen Achttausender. Das würde man teuer bezahlen.
Trotz ihrer guten Vorbereitung hätte es Norris fast erwischt. Auf dem Abstieg machte sie einen verhängnisvollen Fehler, stürzte ein paar Meter eine Wand hinunter und konnte eigentlich nur noch unter ungeheuren Schmerzen weiterlaufen. Zwei ihrer Begleiter verdankt sie ihr Überleben. Abschrecken sollte vielleicht folgende Einlassung nach ihrem Aufstieg: "Ich starrte auf den Körper, der irgendwie meiner war. Ich wusste, was er durchgemacht hatte; den furchtbaren Sauerstoffmangel in der Todeszone; die tödliche Kälte, die sich in die Knochen gefressen hatte; und den Sturz, der die linke Schulter und den Rücken so stark geprellt hatte. Mir war, als müsste ich mich bei ihm entschuldigen. Er hatte mir so gut gedient, und die ganze Zeit hatte ich nicht geahnt, wie sehr er, verborgen unter den Kleidungsschichten, gelitten hatte. Ich konnte nicht glauben, dass ich mir das alles angetan hatte."
Wenn man dieses etwas zu lange Buch liest, kann man sich immer wieder wundern, wie Ansichten und Gefühlslage der Autorin schwanken. In ihrer Kindheit bemerkte sie ihr läuferisches Talent, trainierte wie verrückt und wurde sehr erfolgreich. Ihre Karriere als Mittelstrecklerin wurde von einer Bulimie durchkreuzt. Nachdem sie das hinter sich gebracht hatte, ging sie, aus welchen Gründen auch immer, zu einem Vortrag zweier Bergsteiger. Bis dahin hatte sie noch nie einen Berg bestiegen, noch nicht einmal einen harmlosen. Die beiden waren auf dem Mount Everest. Und plötzlich wollte Bonita auch dorthin.
Den ganzen Rest erzählt sie in diesem Buch. Nach dem Everest kam für sie noch der Lhotse, der nicht weniger gefährlich ist. Am K2 schließlich musste sie wetterbedingt aufgeben. Und nach ihrer Bergsteigerkarriere wurde Bonita Norris Motivationsrednerin. Sie folgt dem Motto "Du kannst alles erreichen, wenn du es nur willst". Das klingt gut, und sie scheint der lebende Beweis für diese kühne Behauptung zu sein. Vergessen sind ihre Beklemmungen am Berg, ihre Ängste und die Toten, die sie traf. Vermutlich dachten diese Menschen auch, dass sie alles erreichen können, was sie wollen.
Man weiß nicht, ob man solche Menschen wie Norris bewundern oder ob man an ihrem Verstand zweifeln soll. Mir ist das nicht wirklich klar. Bei Norris scheint der Instinkt gut funktioniert zu haben. Selbstzweifel kamen ihr dennoch, vor allem nach ihrem Sturz am Everest, bei dem sie gnadenlos verstand, wie schmal der Grat zwischen Erfolg und Tod dort oben ist.
Wenn dieses Buch etwas zeigt, dann menschliche Ambivalenz. Norris ist gewissermaßen dafür ein Paradebeispiel.
Bonita Norris
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Miss Everest
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‚Physisch hatte ich keine Energie mehr, keine Fettreserven oder Kalorien aus der Nahrung, ich hatte nichts getrunken und nicht geschlafen. Ich hatte einzig das Versprechen an mich selbst, dass ich ganz bestimmt dorthin gelangen würde, wo ich schon so lange hin wollte. Dafür musste ich nur weiter die kleinen Schritte machen.‘
Mit Beginn der Pubertät entwickelt Bonita Norris eine Bulimia nervosa, die sie mehrere Jahre begleitet, bis sich die Britin darauf besinnt, was ihr früher gut getan hat: das Laufen. Sie beginnt wieder mit Langstreckenläufen, lässt die Bulimia nervosa zurück und steigert ihre Leistung immer mehr.
Als Norris einen Vortrag über eine Mount Everest-Besteigung besucht, wächst in ihr die Idee, dass sie selbst zum höchsten Berg der Erde aufbrechen möchte, obwohl sie noch nie auf einem Berg stand. Doch sie hält unbeirrbar an ihrem Traum fest, lernt Klettern und nähert sich so Schritt für Schritt dem Mount Everest.
Im Jahre 2009 bricht die 21-jährige Norris schließlich auf zum Manaslu, dem achthöchsten Berg der Erde. Es ist ihr erster 8000er und eine Art Generalprobe für den Mount Everest, den sie im Jahr darauf besteigt.
In ‚Miss Everest‘ erzählt Norris von ihrer Kindheit, von Langstreckenläufen, von ihren Ängsten und ihrer Essstörung, von ihrer Expedition zum Manaslu und dem katastrophalen Abstieg, vom Mount Everest, von der Amu Dablam und vom Lhotse.
Sie berichtet in ihrem Buch detailliert von der Suche nach einem Sponsor und den Vorbereitungen, vom Ablauf einer Expedition im Himalaya, von Naturphänomenen, vom Basiscamp und von Akklimatisierung, von der Todeszone und von körperlichen Schäden.
Ich habe schon sehr viel über Höhenbergsteigen gelesen und kenne deshalb viele der im Buch angesprochenen Probleme, Schwierigkeiten und Abläufe. Ich empfand Norris‘ Buch dennoch als sehr spannend und als lohnend, weil es ihr gelingt, auf sehr unterhaltsame, aber auch lehrreiche Weise von ihren Abenteuern zu erzählen, so dass man das Buch schnell lesen kann, aber trotzdem sehr viel lernen kann.
Dabei beschreibt Norris ihre Erfahrungen auf den 8000ern so anschaulich, so lebendig und so spektakulär, dass man sich am liebsten gleich auf den Weg machen möchte - wenn sie nicht wenige Seiten später von den enormen Strapazen, von tödlichen Unfällen, von Hirnödem und von abgefrorenen Fingern und Zehen schreiben würde.
Sehr schön finde ich auch Norris‘ Botschaft, dass (fast) alles machbar ist, dass man (fast) alles erreichen kann, wenn man sein Ziel vor Augen behält und unbeirrbar seinen Weg verfolgt.
Norris lässt den Leser an ihren Erlebnissen teilhaben und ist dabei offen, ehrlich und emotional, wodurch sie mich beeindruckt und berührt hat.
Ich fand ‚Miss Everest‘ einfach wunderbar und kann es allen empfehlen, die spannende Geschichten mögen, vom Himalaya träumen und/oder aus Angst vor Misserfolg lieber gar nicht erst versuchen, ihre Ziele zu verfolgen.
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