Cover des Buches Mountain Home (ISBN: 9783865523457)
Rezension zu Mountain Home von Bracken MacLeod

Mountain Home

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 8 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 8 Jahren
Elementare Krise als Bewährungsprobe

Ein bausteindünnes und glasscheibenreiches Restaurant wird auf über einen Berghang errichtet; das Grundstück ist nur über die Vorderseite erreichbar, direkt hinter dem Gebäude beginnt ein Steilabhang, der in einem undurchdringlichen Urwald mündet. Anders ausgedrückt: Dies ist ein Ort ohne Notausgang, über den man sich davonmachen kann, sollte es erforderlich sein.

Um die Schraube noch ein wenig anzuziehen, verfügt besagtes Restaurant über einen volumenstarken Gastank, der sorgfältig vermint wurde: Flucht ist nicht nur unmöglich, sondern kann auch durch den Druck auf einen Fernauslöser verhindert werden, der den Tank, das Restaurant und seine unglücklichen Insassen in Stücke sprengen würde.

Die einzige Zu- und vor allem Abfahrt kontrolliert eine geistesgestörte Frau, die nur dann hochkontrolliert agiert, wenn sie durch das Visier ihrer Präzisionswaffe blickt. Joanie Meyer ist sowohl geschult in der ‚Kunst', Menschen auf eindrucksvolle Entfernungen zu töten, als auch willens, dies zu tun: Sie glaubt ihr Leben zerstört, doch statt still und heimlich Selbstmord zu begehen, will Meyer mit einem Donnerschlag untergehen, der ihr finales Statement an eine Welt darstellen soll, von der sie sich im Stich gelassen fühlt.

Der Frau mit dem Gewehr ausgeliefert sind die Menschen in der »Mountain Home Kitchen«. Schon der Name ist Ironie, denn von heimeliger Atmosphäre kann keineswegs gesprochen werden: Dies ist ein besserer Imbiss, der seine Gäste billig abfüttert und dabei keine kulinarischen Maßstäbe setzt. Die Schäbigkeit setzt sich hinter dem Tresen fort, denn das »Mountain Home Kitchen« zahlt nur Mindestlöhne an seine Angestellten, denen zudem der von Minderwertigkeitskomplexen und Cäsarenwahn beherrschte Beau im Nacken sitzt.

Solidarität auf dem Prüfstand

Schon der Name ist ein Geburtsmakel: Wie mag sich ein Mann fühlen, der irgendwann feststellen muss, alles andere als ein »Beau« zu sein? Die daraus resultierenden Kompensationsversuche verschaffen den Männern und Frauen hinter dem Tresen der »Mountain Home Kitchen« ein schwererträgliches Leben. Einig sind sich Koch und Kellner nichtsdestotrotz höchstens in ihrer Abneigung gegenüber Beau. Dies ersetzt keine krisentaugliche Solidarität, wie sich umgehend herausstellt, als die ersten Schüsse fallen.

Die Folgen solchen Verhaltens interessieren Bracken MacLeod besonders, ohne dass er darüber den Action-Faktor einer Story vernachlässigt, die sich immerhin um den Amoklauf einer Scharfschützin dreht. Die Falle, in der MacLeod seine Figuren fängt, ist im Grunde allzu perfekt: Weder Flucht noch Gegenwehr sind möglich.

So geht es primär darum, mögliche Reaktionen durchzuspielen. MacLeod hegt keine großen Hoffnungen, dass Menschen in der Krise ihr Konfliktpotenzial beherrschen bzw. in den Dienst einer gemeinsamen Abwehr des Gegners stellen können. Stattdessen zerfällt die eigentlich aufeinander angewiesene Gruppe in kleine und kleinste Fraktionen, die einander belauern, betrügen und ans Messer liefern.

Ein ganz besonderes Licht

Als sich innerhalb der »Kitchen« die Spreu vom Weizen trennt, ist ausgerechnet Lyn Lowry der Situation gewachsen. Tatsächlich scheint sie auf ein Ereignis gewartet zu haben, das sie aus ihrer Alltagslethargie weckte. Lyn hat Pläne, Träume und ein ausgeprägtes Zeichentalent, ließ sich aber bisher immer wieder vom Unterschichten-Leben bzw. von Familienmitgliedern, lumpigen Lovern oder knickrigen Bossen zurück in den Sumpf ziehen.

Nun wird auf sie geschossen. Um zu überleben, muss Lynn sich Gedanken über einen Ausbruch machen, bevor die »Kitchen« in die Luft fliegt. Sie entwickelt in einem aus der Not geborenen Crashkurs entsprechende Qualitäten, die sie notfalls unter Einsatz einer auf sie gekommenen Waffe durchsetzt.

Die Krux ist, dass Lyn sich dabei ahnungslos der Gegnerin anzupassen beginnt. Auch Joanie Meyer musste lernen, dass Gewalt sich weder auf ein Freund-Feind-Schema begrenzen noch abschütteln lässt, wobei gleichgültig bleibt, ob man Täter oder Opfer ist. Lyn streift ihre moralischen Bedenken ab. Zu spät merkt sie, was sie damit endgültig verloren hat. In einem Epilog-Kapitel präsentiert uns MacLeod eine scheinbar starke Lyn, die ihr Dienstbotendasein hinter sich gelassen hat und erfolgreich geworden ist. Doch hinter dieser Kulisse kämpft sie gegen dieselben Dämonen wie zuvor Joanie, und die stets griffbereite Waffe kündigt an, dass Lyn womöglich ebenfalls auf dem Weg in den Abgrund ist.

Alle sollen ihr büßen!

Der Amoklauf ist nicht nur aber vor allen in den USA beinahe alltäglich geworden: Eine »Gesetzgebung«, die freien Menschen den freien Zugang zu Waffen ermöglicht, muss sich der unerfreulichen Tatsache stellen, dass diese Mordinstrumente immer wieder dort zum Einsatz kommen, wo verzweifelte Menschen sich nicht nur selbst umbringen, sondern möglichst viele Mitbürger mit in den Tod reißen wollen.

Zwischen »Schuldigen« und »Unschuldigen« können Amokläufer nicht unterscheiden. Ihnen geht es um das Fanal – die möglichst opferstarke und damit eindrückliche Bestätigung jenes persönlichen Elends, das sie Amok laufen ließ. Joanie Myer weiß genau, dass die Gäste der »Mountain HomeKitchen« nicht für ihr Schicksal verantwortlich sind. Für Lyn spürt sie sogar freundschaftliche Gefühle. Doch über jenen Punkt, der sie deshalb Abstand von ihrem mörderischen Plan nehmen ließe, ist Joanie rettungslos hinaus. Der Entschluss ist gefasst, die Waffe geladen. Nichts und niemand wird Joanie Myer dieses Mal aufhalten!

Mit ausformulierten »Erklärungen« hält sich MacLeod zurück. Was Joanie soweit trieb, fließt nach und nach in die Geschichte ein. Ansonsten sind die Würfel bereits gefallen, wenn wir die Lektüre beginnen. Nur einmal zögert Joanie und denkt ans Aufgeben, doch sie kann sich dem Sog des selbst inszenierten Rachefeldzugs nicht mehr entziehen.

Eine Geschichte wie ein Feuerstoß

Bracken MacLeod konzentriert das Geschehen zwar auf die Belagerung der »Kitchen«, unterbricht aber immer wieder. Die chronologisch gegliederte Handlung »springt« zwischen Zeiten und Orten. Auf diese Weise lernen wir die Vorgeschichte kennen, während die Tragödie bereits ihren Lauf genommen hat – ein Kunstgriff, der einen langen Story-Vorlauf verhindert, welcher nicht ins MacLeods Konzept passte: Die Ereignisse in der »Mountain Home Kitchen« brechen schlagartig über die meisten Beteiligten herein, weshalb der Autor die Handlung umgehend einsetzen lässt.

Die Figuren kennen wir; MacLeod bedient sich absichtlich zahlreicher Klischees. Sie passen in das gruselig perfekt geschilderte Unterschichten-Milieu.Da haben wir den moralisch integren (und schwarzen) Ehrenmann, der seinem Sohn ein Vorbild sein will und gerade deshalb relativ früh Federn bzw. Blut lassen muss, einen indianischen Koch mit Universitätsabschluss, einen rassistischen, chauvinistischen, hinterlistigen Verräter, natürlich den feigen Beau sowie einige verlotterte jugendliche Haschköpfe, die nachdrücklich die Generation Rücksichtslos repräsentieren.

Hinzu kommt als männliche Hauptfigur Hilfssheriff Douglas, der keine Ahnung hat, welche Rolle er auf Joanies Weg in den Wahnsinn spielt. Für ihn wendet sich alles gerade zum Besten; seine Gattin kündigt ihm Verzeihen an. Als Ehrenmann will Douglas sich jetzt noch mit Joanie aussprechen und auch von dieser Seite Absolution erhalten. Die Strafe für solche Naivität folgt auf dem Fuß: Douglas gerät zwischen die Fronten und muss schließlich vollständig zahlen, was er bestellt hat.

Auf 220 Seiten und ohne Verzögerungen läuft das Drama ab. Selbst ein fantastisches Element verzeiht man dem Verfasser: Durch das Unterholz um die »Kitchen« kriecht der »Kreewatan«, ein Mischwesen aus Bär und Hirsch, das als indianischer Geist der Zerstörung gern dort auftaucht, wo es sinnlos mörderisch zugeht. So verleiht MacLeod dem Kreislauf der Gewalt symbolisch ein »Gesicht«.

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