Rezension zu "Der einsame Polygamist" von Brady Udall
Ein Mormone hat es auch nicht leicht.......
„Es gab kein Vertun. Er hatte Angst. Angst davor, dass die Wahrheit schließlich entdeckt worden war. Was für ein Anblick: ein Mann, der Angst hatte, sein eigenes Haus zu betreten“.
Aber nicht nur diese Lüge, die Golden Richards mit sich trägt, macht ihm Angst. Oder besser, engt ihn ein. In seinem Haus leben zudem 4 Frauen und 28 Kinder und alle brauchen, fordern und wollen ihr Recht. Von ihm, dem Mann und Vater. Da, wo der Teppich eine tiefe Schneise trägt von „der Rennbahn“, dem Laufspiel der Kinder durch alle Räume hindurch. Da, wo Golden selbst in einem Wandschrank einen Haushaltseimer benutzen muss, weil er nicht mehr einhalten kann und sämtliche Toiletten des Hauses beständig besetzt sind. Und nur mittels selbstgeschaffener Schüttelreime die Namen seiner Kinder einigermaßen im Griff behält.
Man könnte zunächst der Meinung sein, dass der Mann entweder über zuviel Energie verfügt oder undankbar als Mann ist. Einer, der zu seinen vier Ehefrauen heimlich noch eine Geliebte sich an Land zieht. Hat er nicht genug damit zu tun, seinen vier Frauen zur Seite zu stehen, die nach einem sehr komplizierten Plan jene Nächte untereinander aufteilen, die Golden zu Hause weilt? Beruflich ist das nicht mehr ständig der Fall, einige Tage die Woche verbringt er auswärts als selbstständiger Bauleiter. Gelegenheit eben für seine neue Bekanntschaft.
Wer sich aber auf diesen umfangreichen Roman erst einmal eingelassen hat und dann auch im Lauf der Seiten hinter die „Kulissen“ schaut (die Kulissen des Hausstandes von Golden, aber auch hinter die Kulissen der wunderbar ironischen und humorvollen Sprache Udalls), der wird recht bald schon merken, dass hier hinter der, über weite Strecken hervorragend und unterhaltsam erzählten, Geschichte noch andere, wichtige Themen verhandelt werden.
Wie das eben ist, umgeben von Menschen und Lautstärke zu sein, vielfache Erwartungen zu sehen, sich umsorgt zu wissen und dennoch zu der eigenen Welt keinen echten inneren Zugang zu finden. Das ist Goldens eigentliche Suche. Keine Rollen mehr zu spielen, nicht immer vorsichtig auftreten zu müssen, weil eine seiner Frauen oder eines der vielfältigen Kinder umgehend sensibel reagieren könnten. Da, wo er ein wenig lauter nur wird, da bricht fast umgehend die Welt um ihn herum zusammen und schnell muss er wieder zurückrudern, um auch nur annähernd ein wenig Ruhe für sich zu finden. Warum er so ist? Auch dem geht Udall intensiv nach, erzählt von der schwierigen Kinderzeit Goldens, von der Mutter, die immer sich in den Mittelpunkt rückte, dem Vater, der nur aus der Ferne Träume erweckte. Wie alle tragenden Figuren im Buch intensiv beleuchtet und dargestellt werden.
So durchmischen sich auf den gut 730 Seiten des Buches screwballreife Kömodienanteile, die ständigen Vertuschungsversuche Goldens, seine innerlich immer stärker fast platzende Befindlichkeit mit durchaus ernsten Tönen. Nicht nur bei ihm. Auch seine Frauen tragen noch mehr in sich, als der erste Anschein vermuten lässt. So darf man gespannt sein, wie sich die vielfältigen Dinge innerhalb und um die differenziert und ausführlich gezeichneten Personen herum entwickeln.
Einige Längen im Buch muss der Leser sicherlich überstehen, nicht alle Schilderungen bieten das gleiche hohe Tempo, manches ist zu viel an (noch mehr) Personen und Ereignissen. Im Gesamten aber legt Udall eine flüssig und mit Humor gewürzte Unterhaltungslektüre vor, in der auch die tieferen Töne nicht zu kurz kommen und der Leser durchaus die Einsamkeit des Golden Richards und seinen Kampf gegen diese innere Leere mit Spannung (und öfter leichtem Lachen) verfolgt.