Deutschlands sogenannte "Mittellage" in Europa und die sich daraus ergebenden Probleme für das europäische Staatensystem sind ein klassisches Thema jener Teildisziplin der Geschichte, die sich mit Außenpolitik, internationalen Beziehungen und Diplomatie beschäftigt. Der britische Historiker Brendan Simms rückt Deutschland ins Zentrum einer chronologisch weit ausholenden Geschichte des europäischen Staatensystems, die mit dem Fall Konstantinopels beginnt und in unseren Tagen endet. Über einen Zeitraum von mehr als 500 Jahren untersucht Simms, welche Rolle das Heilige Römische Reich, der Deutsche Bund, das Kaiserreich, das Dritte Reich, die BRD und die DDR in Europa spielten und welche Bedeutung dem wiedervereinten Deutschland im gegenwärtigen Europa zukommt. Die Darstellung ist freilich nicht auf Deutschland bzw. die deutschen Führungsmächte Preußen und Österreich verengt; auch andere maßgebliche europäische Staaten (England/Großbritannien, Frankreich, Spanien, Schweden), Russland/die Sowjetunion und die USA werden einbezogen.
Simms vertritt die These, dass die Kontrolle über Deutschland stets unabdingbare Voraussetzung für die Hegemonie auf dem Kontinent war. Wer Deutschland beherrschte, sei es von innen (z.B. Hitler), sei es von außen (z.B. Napoleon), wer Deutschlands Ressourcen bündeln und für sich nutzbar machen konnte, der besaß eine gute Ausgangsbasis, um nach der Vorherrschaft in Europa zu greifen. Deutschlands demographisches und wirtschaftliches Potential war zu allen Zeiten zu groß, als dass eine Macht ohne oder gegen Deutschland eine dauerhafte Hegemonie in Europa hätte erlangen können. Ob Deutschland im Mächtesystem eine aktive oder passive Rolle spielte, war von seiner politischen Verfasstheit abhängig. Das Heilige Römische Reich und der Deutsche Bund waren außenpolitisch schwache Akteure, verhinderten aber durch ihre bloße Existenz, dass sich ein anderer europäischer Staat auf Dauer als Hegemon etablieren und den Kontinent unter seinen Willen zwingen konnte. Erst mit der Reichseinigung von 1871 erfolgte der Übergang von einer Außenpolitik der einzelnen deutschen Territorialstaaten und Fürsten zu einer nationalstaatlichen deutschen Außenpolitik. Das Kaiserreich und das Dritte Reich nutzten ihre Stärke für den Versuch, Mitteleuropa, wenn nicht gar den ganzen Kontinent gewaltsam umzugestalten.
Wie Deutschland staatlich organisiert war (als lockerer Staatenbund oder Zentralstaat), welche außenpolitische Handlungsfähigkeit es besaß, welche Dynastie (z.B. Habsburger, Hohenzollern) oder politische Kraft in Deutschland tonangebend war, wie Deutschland "eingehegt" und in das europäische Staatensystem eingebunden werden konnte, diese Fragen beschäftigten jahrhundertelang die Herrscher, Politiker und Diplomaten aller wichtigen Staaten. Keine nichtdeutsche Macht konnte je bestimmenden Einfluss auf die europäische Ordnung nehmen, ohne Deutschland in irgendeiner Form in ihr Kalkül einzubeziehen. Die spanischen Habsburger konnten es genauso wenig wie Ludwig XIV. oder Napoleon oder nach dem Zweiten Weltkrieg die USA und der Sowjetdiktator Stalin. Ihnen allen ging es darum, sich entweder Deutschlands Potential zunutze zu machen oder sicherzustellen, dass von Deutschland keine Gefahr ausging. Die Tatsache, dass Deutschland, welche staatliche Gestalt es auch hatte, nicht ignoriert werden konnte, zieht sich seit der Frühen Neuzeit als roter Faden durch die Geschichte des europäischen Mächtesystems.
Um seine These von der Schlüsselstellung Deutschlands zu belegen, lässt Simms die gesamte Geschichte des europäischen Staaten- und Mächtesystems seit dem späten 15. Jahrhundert Revue passieren. Alle wichtigen Allianzen und Bündnisse, Kriege und Konflikte, Friedenskongresse und Verträge finden Erwähnung. Simms spannt einen Bogen von den dynastischen und konfessionellen Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts bis hin zum Kalten Krieg, zum Untergang des Kommunismus und zum europäischen Einigungsprozess. Mehrere Leitmotive durchziehen das Buch: Das Spannungsverhältnis zwischen Gleichgewicht bzw. Ausbalancierung der Kräfte einerseits und hegemonialen Bestrebungen einzelner Mächte andererseits; Versuche, durch Kontrolle der sprichwörtlichen Mitte des Kontinents ganz Europa zu beherrschen; Deutschlands wechselnde außenpolitische Rolle, mal als ohnmächtiger Spielball seiner Nachbarn, mal als eigenständiger Akteur, der schlimmstenfalls zur Bedrohung für Europa wird; schließlich die Versuche, unter Einbindung Deutschlands eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen. Simms verschränkt diese konfliktreiche Geschichte der Staatenbeziehungen immer wieder mit knappen Einschüben, in denen er die Rückwirkungen der Außenpolitik und der Mächtekonkurrenz auf die inneren Verhältnisse der einzelnen Länder untersucht. Debatten um außenpolitische Ziele und Strategien werden erörtert, aber auch Verwaltungs-, Finanz-, Wirtschafts- und Militärreformen, die zur Steigerung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit beitragen sollten. Das alles ist im Grunde Stoff für mehrere Bücher, und am Ende der Lektüre stehen erhebliche Zweifel, ob Simms ein Thema gewählt hat, das sich in einer gut lesbaren und lesenswerten Form behandeln lässt. Das Buch hinterlässt keinen zufriedenstellenden Gesamteindruck.
Ausgesprochen ärgerlich ist zunächst einmal der Umstand, dass Simms seinen ausufernden Text in acht große Kapitel unterteilt hat, deren Untergliederung nicht im Inhaltsverzeichnis aufgeführt ist. Wer gezielt nach bestimmten Themen sucht, der muss entweder die Kapitel durchblättern oder das Register bemühen. Dieser Mangel verblasst jedoch gegenüber den anderen Schwächen des Buches. Sprachlich und inhaltlich bewegt sich das Buch auf dem Niveau eines Wikipedia-Artikels. Da Simms einen so gewaltigen Zeitraum untersucht, muss er sich wohl oder übel darauf beschränken, zu jedem Thema, zu jedem Aspekt nur das Nötigste zu sagen (in Kapitel 1 werden nicht weniger als 200 Jahre behandelt!). Folglich verharrt das Buch durchweg an der Oberfläche; eine Vertiefung ist nirgendwo möglich. Im Grunde tut Simms nichts anderes, als gut bekanntes Handbuchwissen zu referieren - und das über Hunderte und Aberhunderte Seiten hinweg. Trotz der beachtlichen Syntheseleistung ist das Buch letztlich kaum mehr als eine uninspirierte Fleißarbeit, die mitunter hart an der Grenze zu banalen Binsenweisheiten und Gemeinplätzen entlangschrammt. Dass die französischen Könige des 16. und 17. Jahrhunderts gegen die "habsburgische Einkreisung" ankämpften, dass die Reichseinigung von 1871 das europäische Mächtesystem grundlegend veränderte, dass der Vertrag von Versailles ein folgenschwerer Fehler war, das alles konnte man schon in hundert anderen Büchern lesen. Dem Zwang zur Verknappung und Zuspitzung sind mancherlei fragwürdige und irritierende Urteile geschuldet: War Unzufriedenheit mit der Außenpolitik Karls I. wirklich der Hauptgrund (!) für den Ausbruch des englischen Bürgerkrieges? War das Engagement des Deutschen Reiches in Mexiko am Vorabend des Ersten Weltkrieges wirklich eine ernste Bedrohung für die USA?
Mit der pedantischen Gewissenhaftigkeit eines Buchhalters handelt Simms alle Ereignisse und Prozesse ab, die für die Entwicklung des europäischen Staatensystems seit dem 15. Jahrhundert von Bedeutung sind. Die Geschichte, die Simms erzählt, ist von Anfang an vorhersehbar, da hinlänglich bekannt. Sie besitzt keinen Spannungsbogen; sie bietet keine neuen Erkenntnisse; sie überrascht nicht mit originellen Interpretationen. Von einem wie auch immer gearteten Lesevergnügen kann keine Rede sein. Wie beim Lesen schnell klar wird, gehört Simms nicht zu jenen englischen Historikern, deren stilistisches Talent deutsche Leser so gerne rühmen und bewundern. Das Buch ist in einer monotonen, trockenen Mitteilungsprosa gehalten, die spätestens nach 300 Seiten demotivierend und ermüdend wirkt. Am Ende jedes Kapitels fragt man sich, ob sich das Weiterlesen wirklich lohnt, denn man weiß ja, was als nächstes kommt, welcher Krieg, welcher Friedenskongress, welche neue Entwicklungsetappe des europäischen Staatensystems. Simms hat sich keinerlei Mühe gegeben, sein Thema in irgendeiner Weise attraktiv aufzubereiten (ob das überhaupt möglich ist, sei dahingestellt). Das Ergebnis ist ein langatmiges und langweiliges Buch, das dem Fachmann nichts Neues bietet und den Laien durch seinen unhandlichen Umfang und seine eintönige Darstellungsform abschreckt.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im September 2014 bei Amazon gepostet)