Es brauchte 8 Jahre, bis der im Original 2007 unter demselben Titel veröffentlichte Roman 2015 auf Deutsch erschien. Es ist einer von nur zwei Romanen der Autorin, die ins Deutsche übertragen worden sind, was womöglich an ihrer Komplexität liegt, denn das vorliegende Werk ist sicher keines, das man einfach so runterliest.
Die vielen Geschichten, Namen, Verbrechen und Anekdoten, die von der Autorin angesprochen werden, animieren zur eigenen Recherche, was sehr lehrreich ist, aber die Lektüre zerstückelt. Bei mir hat es zur Erkenntnis geführt, dass ich dieses Buch in den Zeiten ohne Internet nur mit deutlich weniger Wissenszuwachs hätte lesen können.
Die Erzählweise mit ständigen Zeiten- und Perspektivenwechseln gefiel mir jedoch nicht besonders gut und war mir zu durcheinander. Mehr Stringenz und Klarheit hätten dem Roman sehr gutgetan.
Ungewöhnlich ist die Garnierung des Textes mit entsprechenden Bildern, die leider zum Teil so klein geraten sind, dass Wesentliches nicht zu erkennen ist. Das hätte man sich in den meisten Fällen sparen können. Schade finde ich auch, dass einige Lieder und Gedichte nicht übersetzt worden sind.
Einige, wie ich finde, bemerkenswerte Stellen möchte ich gerne zitieren:
„Wie viele Schocks, wie viel Unglück verursacht seit Jahrhunderten diese sinnlose Information (gemeint ist die Religions- bzw. Volkszugehörigkeit, Anmerkung des Verfassers), die Menschen sogar vor sich selbst verbergen oder sich damit brüsten, als würde sie darüber entscheiden, wer sie sind und was sie sind, als wären Glaube und Blut für sich genommen Segen oder Fluch.“ (Verlag Hoffmann und Campe, 1. Aufl. 2015, S.52)
„Die Familie Tedeschi lebt weiter in illusorischer Unwissenheit. Wer weiß, was vor sich geht, redet nicht darüber; wer es nicht weiß, stellt keine Fragen; wer fragt, bekommt keine Antworten.“ (ebd., S.79)
„Die blinden Betrachter sind ‚gewöhnliche‘ Leute, die auf Sicherheit setzen. Sie wollen ungestört leben. Im Krieg und trotz des Krieges wenden diese blinden Betrachter den Blick ab und verweigern jedes Mitleid, ihr Selbstschutz ist eine Rüstung, ein Schneckenhaus, in dem sie sich wie Maden fröhlich fläzen. Sie sind überall. In den neutralen Regierungen neutraler Staaten, unter den Verbündeten, in den besetzten Ländern, unter der Mehrheit unter der Minderheit, unter uns. Die bystander, das sind wir.“ (ebd., S. 89)
„Bevor das Lager geschlossen wird, schlägt Kurt Franz die Zeit tot, indem er Menschen totschlägt.“ (ebd., S. 277)
Insgesamt ist das Buch irritierend und sperrig. Das beginnt schon mit der Haptik und den fransigen Seitenrändern, die – zumindest mich – an einen Stacheldraht erinnern. Die Sperrigkeit ist sicherlich Absicht, die Autorin will es dem Leser nicht leicht machen. Es kommen Täter und Opfer zu Wort, oftmals aus der Perspektive nicht eines anderen, sondern eines Dritten, der berichtet, was der Erste dem Zweiten erzählt hat.
Mit voller Wucht und so „hautnah“ wie literarisch nur möglich möchte die Autorin den Leser mit den schrecklichen Geschehnissen konfrontieren. Sie belässt es nicht dabei, die Zahl der Opfer und die Zahl der Täter zu veröffentlichen. Sie veranschaulicht, wie viele Buchseiten die Namen von 9000 Opfern füllen, und wie viele die Kurzbiografien der Täter. Das ist beeindruckend und erzielt Wirkung, zumindest bei mir.
Wiederholt erwähnt sie, was eigentlich eine Binse ist, aber in der Ungeheuerlichkeit der riesigen Opfer- und Täterzahlen trotzdem unterzugehen droht: „Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte.“
Auf der einen Seite ist dadurch ein tolles, lehrreiches, erschütterndes Buch entstanden für all diejenigen, die sich für Literatur, ihre Spielarten und im optimalen Fall auch für die Geschichte des 3. Reiches interessieren. Auf der anderen Seite und das empfinde ich als das große Manko dieses Buches sperrt die Autorin ungeübte Leser praktisch aus, spricht niemanden an, der sich nicht von selbst angesprochen fühlt, weckt kein Interesse für die Geschichte des 3. Reiches, sondern erschwert den von ihr so genannten „bystandern“, die sie im Text zu Recht kritisiert, den Zugang geradezu. Ich fürchte, das ist kontraproduktiv. Drei Sterne.