Cover des Buches Kalter Wind in Genua (ISBN: 9783293003743)
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Rezension zu Kalter Wind in Genua von Bruno Morchio

Fünf Kugeln und Italien ist sauber

von Stefan83 vor 12 Jahren

Rezension

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Stefan83vor 12 Jahren
„Der übliche Schauplatz für Krimis, seien sie nun europäisch oder amerikanisch, ist die Großstadt. Denn die Stadt repräsentiert den Ort, an dem die kleinen, schmutzigen Ereignisse, in denen der Tod lauert, auf die großen Fragen unserer Zeit treffen.“ Was Bruno Morchio in seinem Nachwort festhält, scheint gleichzeitig seine Maxime bei der Ausarbeitung des Debütromans „Kalter Wind in Genua“ gewesen zu sein, der sich deutlich erkennbar an den großen „Mittelmeerkrimis“ von Jean-Claude Izzo und Vásquez Montalbán orientiert und mit Bacci Pagano einen weiteren Privatdetektiv „alter Schule“ auf die große Bühne der Spannungsliteratur schickt. In einem Genre voller schlechter Kopien bewahrt sich jedoch Morchio auf bemerkenswerte Weise seine Eigenständigkeit, was nicht zuletzt daran liegt, dass sein Protagonist mehr als nur das übliche Zugpferd für die kriminalistische Handlung verkörpert. Er steht hier beispielhaft für eine Stimme aus der Gesellschaft der Genueser Altstadt und erlaubt dem Leser damit einen Blick in das enge Geflecht düsterer Gassen, in dem der Kontrast von Licht und Schatten, Pracht und Verfall, schon fast sinnbildlich für das moderne Italien steht. Ein Blick, den eben jener Leser wohl in der Vergangenheit wenig genutzt hat, denn Morchio, dessen erste zwei Bücher beim Unionsverlag erschienen sind und der nun bei dtv verlegt wird, ist auf den Tischen vieler Buchhandlungen immer noch ein seltener Gast. Angesichts eines solchen eindrucksvollen Debüts kann man sich da nur verdutzt die Augen reiben. Bacci Pagano, Kind einer ehrlichen und strebsamen Arbeiterfamilie, ist im fortgeschrittenen Alter zum zynischen Einzelgänger und Egozentriker geworden. Er meidet Menschenaufläufe genauso wie gefühlsmäßige Bindungen und widmet sich in seiner Freizeit lieber der klassischen Musik und guter Literatur. Es ist ein Ausgleich zu seinem dreckigen Job, denn als Privatdetektiv macht er stets aufs Neue Bekanntschaft mit den düsteren Abgründen der „Caruggi“, den engen Gassen von Paganos geliebter Heimatstadt, die er auf dem Sattel seiner amarantroten Vespa durchquert. Während eines routinemäßigen Überwachungsjobs wird er dabei auf ein großes Plakat aufmerksam, das in ungewöhnlicher und radikaler Weise für einen lokalen linken Radiosender wirbt. „Fünf Kugeln und Italien ist sauber“ ist darauf zu lesen, sowie die Aufforderung, sofort den Sender zu kontaktieren und das gewünschte Ziel zu nennen, welches mit einem Sturmgewehr exekutiert werden soll. Das hinter dieser PR-Kampagne sein alter Jugendfreund Samuele Lagrange steckt, erfährt Bacci erst kurze Zeit später, als dieser ihn für einen Job anheuern will. Das betreffende Gewehr ist bei einem Einbruch gestohlen geworden und Lagrange fürchtet nun die Schließung seines Senders. Bacci stellt sofort Nachforschungen an, welche ihn auf die Spur eines gesuchten Terroristen führen, der offensichtlich den geplanten Besuch des Ministerpräsidenten Berlusconi in Genua für einen Anschlag nutzen will. Da kommt es äußerst ungelegen, dass sein zweiter Auftrag, bei dem Bacci für eine alteingesessene Reeder-Familie hinsichtlich Industriespionage ermittelt, ihn auch noch in die Kreise der Mafia führt. Während ganz Genua sich auf ein frostiges Weihnachtsfest vorbereitet, wird der Boden unter Bacci schneller heißer als ihm lieb sein kann … Das „Kalter Wind in Genua“ der erste Roman aus der Feder des Italieners Bruno Morchio ist, mag man angesichts der routinierten Sicherheit, mit welcher er hier Form, Inhalt und Spannungsbogen verbunden hat, fast kaum glauben. Sein Erstling liest sich von der ersten bis zur letzten Seite wie aus einem Guss und trumpft dabei mit einem Facettenreichtum auf, der von den Trieben der Mafia, über Polizeiwillkür, illegale Einwanderer, Zwangsprostitution bis hin zum erstarkten italienischen Faschismus so ziemlich jedes aktuelle Thema des Mittelmeerstaates abdeckt. Forsch geht er zur Sache, dieser Morchio, überrascht mit einem kämpferischen, treffsicheren Ton, der, wie die Zeichnung von Genua selbst, ganz den klassischen Motiven der alten Hardboiled-Größen verbunden ist, im Gegensatz zu diesen aber auch das politische nicht außen vor lässt. Berlusconi, der im Buch stets nur als „Ministerpräsident“ betitelt wird, sieht sich hier einer Dusche des Spotts ausgesetzt. Seine weit verzweigten, mafiösen Verbindungen deutet Morchio zwischen den Zeilen immer wieder an, ohne dabei den roten Faden der eigentlichen Handlung zu verlassen. Alles wird schlüssig miteinander verknüpft, die parallel laufenden Stränge gekonnt weiterverfolgt. Immer dann, wenn man gerade glaubt, Morchio habe sich in diesem Wirrwarr verzettelt, überrascht der Autor mit einer neuen intelligenten Verbindung. Schon fast im Kontrast zu dieser politisch kämpferischen Ader stehen dann die liebevollen Beschreibungen von Genua, dessen komplexen Wandel er anrührend und äußerst bildreich wiedergibt. Diese kleine Stadt mit der großen historischen Vergangenheit ist es auch, die den Kern der Geschichte darstellt. Bruno Morchios Roman ist eine Hommage an seine Heimat, welche auf der Suche nach einer postindustriellen Zukunft und dabei zwischen Tradition und Fortschritt gefangen ist. Wind, Wetter, Gerüche und Geschmack. Sie bilden die Zutaten von denen dieses Buch lebt, es seine Sogkraft bezieht. Bacci auf seiner Vespa durch die düsteren, muffigen Häuserschluchten zu folgen, in kleinen Cafés zu speisen und den Mistral im Gesicht zu spüren. Das macht die Faszination aus, welche sich wie die Neugier an dieser Stadt langsam aber stetig einstellt. Mag sonst dieser Begriff schon ausgelutscht und abgedroschen sein. Hier darf man endlich wieder von Lokalkolorit, von regionalem Flair sprechen. Was Bacci Pagano angeht. Morchio, der auf die Frage nach seinen literarischen Vorbildern Chandler nennt, hat seinen Protagonisten ganz in dessen Tradition gezeichnet, wenngleich er aber auch geschickt mit den Klischees spielt. Wie z.B. hier im Gespräch Baccis mit dessen Freund bei der Mordkommission, dem Vicequestore Commissario Salvatore Pertusielo: (…) „Was zum Teufel machst du denn hier?“ „Ich arbeite für die Firma Pellegrini.“ „Kümmerst du dich nicht mehr um diese Gewehrgeschichte?“ „Wenn ich nur an einem Fall arbeiten würde, ginge es mir wie Philip Marlowe.“ „Und wie erging es Philip Marlowe?“ „Immer pleite.“ (…) Im Armenviertel der Stadt aufgewachsen, ist Bacci die raue Seite Genuas von Kindesbeinen an bekannt. Und wie fast jeder Private-Eye in der Geschichte des Kriminalromans hat er dort, in dieser modernden Düsternis, seine Kontakte und Informanten. Sollten diese nicht ausreichen, zögert aber auch Bacci nicht handgreiflich zu werden oder gar seine locker im Halfter sitzende Beretta zu ziehen, um an Informationen zu gelangen. Die Konfrontationen, zu denen es in jedem Hardboiled irgendwann unweigerlich kommt, fehlen auch hier nicht. Mehr als einmal muss der schnoddrige, übellaunige und oftmals unbeherrschte Detektiv Prügel einstecken. Das diese „gut gemeinten Ratschläge“ letztlich ignoriert werden, versteht sich natürlich von selbst. Morchio ist die Ausarbeitung seiner Hauptfigur äußerst gut gelungen. Er spielt mit den genretypischen Klassizismen, ohne dabei ausrechenbar zu werden. In der Vergangenheit Baccis, der in den 68ern als vermeintlich gewalttätiger Regimekritiker festgenommen wurde und einige Jahre im Gefängnis verbracht hat, finden sich die Ursachen seiner heutigen Distanziert- und Ziellosigkeit. Wo bei anderen Krimikollegen sonst soziale und private Probleme zum Selbstzweck geworden sind, unterfüttern sie hier lediglich die authentische Lebensgeschichte eines Mannes, der zwar die in seiner Jugend angestrebten Ideale, nicht aber sich selbst aufgegeben hat. Es ist diese Glaubhaftigkeit, welche schon zu Beginn den Zugang zu diesem Roman herstellt, der mit einem spannenden, aber auch sehr bitteren Ende abschließt. Ein Ende, das nachdenklich macht, zur Diskussion anregt und gleichzeitig das I-Tüpfelchen auf ein exzellentes Buch setzt. Insgesamt ist „Kalter Wind in Genua“ ein scharfsinniger, wortgewandter Noir, der den Finger tief in die derzeitigen Wunden Italiens legt und mit einer für ein Debütwerk ungewöhnlichen Kaltschnäuzigkeit überrascht. Neben Malla Nunns „Ein schöner Ort zu sterben“ ist dieser Roman für mich die bisherige Entdeckung des Jahres.
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