Augustinus ist den meisten von uns wohl als Kirchenvater und als Autor der "Bekenntnisse" bekannt. In diesem lateinisch als "Confessiones" - Beichtreden - betitelten Werk schildert der vom Manichäismus zum Christentum konvertierte Augustinus die Geschichte seiner spirituellen Entwicklung und wendet sich dabei explizit an Gott als Adressaten. Damit ist das Werk eine Mischung aus Lebensrückblick, Gebet und Bibelauslegung. Auch der Tod der Mutter spielt eine wichtige Rolle.
Wie bei den "Bekenntnissen" täuscht auch der Titel von Augustinus' Schrift "Über den Lehrer" leicht über den Inhalt des Werks hinweg. Weder geht es in den "Bekenntnissen" um eine Lebensbeichte noch geht es im "Lehrer" um Pädagogik. Das einzige, was in den Confessiones gebeichtet wird, ist ein Birnendiebstahl im Kindesalter. Sonst nichts. Dass eine derart geringfügige Lausbubentat die Abfassung der umfangreichen Seelenforschung veranlasst oder rechtfertigt, wird von vielen, die Augustinus' Gesamtwerk durchdrungen haben, bezweifelt. Ich gehöre nicht dazu und habe somit keine Meinung darüber. Im "Lehrer" ist es allerdings schon so, dass der Bezug zu Christus als dem wahren Lehrer gegen Ende des Werks einem beinahe wie aufgepfropft und beiläufig vorkommt. So als habe es diesen Dreh zum Schluss noch gebraucht, um dem Ganzen einen möglichst christlichen Anschein zu geben.
In Wahrheit handeln die 14 Kapitel dieser als fiktiver sokratischer Lehrdialog des Autors mit seinem verstorbenen Sohn geschriebenen Schrift von den Zeichen und deren Bedeutung.
Das erste Kapitel kommt gleich zur Sache: Was bezwecken wir, wenn wir sprechen?, fragt der Vater seinen Sohn. Darauf folgt eine dialogische Reflexion darüber, was Sprache alles umfasst: Klang, Gesten (besonders bei Stummen oder Gehörlosen), aber vor allem Bedeutung. Dass man mit Sprache Dinge erklären, auf sie verweisen, sie vergegenwärtigen kann, setzt Bedeutung voraus. Sprache bringt die Dinge, die sie bezeichnet, nicht hervor, sondern verweist lediglich auf sie. Und nun überlegt der Vater mithilfe des fiktiven Gesprächspartners, was das denn ist, diese Bedeutung - diese vorausgesetzte Grundlage, die menschliche Kommunikation erst ermöglicht. Möglicherweise fühlt sich das Gespräch mit dem toten Sohn keineswegs fiktiv, sondern sehr real an für den trauernden Vater. Die Entschlüsselung dessen, was den Unterschied zwischen Fiktion und Realität ausmacht, ist jedenfalls zentral in diesem Dialog.
"Über den Lehrer" ist kein leichtes Werk. Man sollte vielleicht vor der Lektüre kurz die augustinische Terminologie überfliegen und sich erkundigen, was es z.B. mit dem "inneren Menschen" auf sich hat. Man wird feststellen: Es gibt keine klare Definition. Unübersehbar ist hingegen die platonische Prägung des Werks, nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt, bespielsweise wenn es um die Rolle der Erinnerung beim Lernen geht. Und so lässt auch das ganze Werk Spielraum für Interpretationen offen; Augustinus lässt uns an seiner Innenwelt teilhaben und setzt damit um, was er der Sprache zuschreibt, nämlich das zu zeigen, wovon sie handelt. Dieser visuelle Aspekt der Sprache ist noch relativ leicht nachvollziehbar, nicht zuletzt deswegen, weil die Erzähltheorie ihn im Gegensatzpaar "telling vs. showing" aufgegriffen hat.
Schwieriger zu verstehen ist der Gedanke, dass der klangliche Ausdruck der Gedanken, etwa in Form von Worten und Sätzen, dazu diene, dem Willen Ausdruck zu verleihen. Denn der Sohn stellt die berechtigte Frage, wozu es denn der sprachlichen Artikulation bedürfe, wenn doch Gott in uns hineinschauen könne und sowieso schon wisse, was wir wollen und brauchen. Augustinus meint - so habe ich ihn verstanden -, dass sich in der Sprache der Wille des Menschen äussere, der nach biblischem Verständnis bekanntlich frei ist. Man kann sich dafür entscheiden, im Einklang mit dem göttlichen Willen zu leben oder nicht. Die Bedeutungen sind ewig, aber auf die sprachliche Gestaltung komme es an. Daher sei es so wichtig, dass Jesus die Worte des Vaterunsers vorgesprochen habe. Damit sei die vollkommene sprachliche Strukturierung eines ewigen Bedeutungsinhalts vorgegeben. Der auch nur laienhaft informierte Leser des 4. oder 5. Jh., als die Schrift geschrieben wurde, wird sich gefragt haben, wie es denn mit Zwangsgedanken ist, die sich dem Willen des Denkenden entziehen. Unterstellt Augustinus etwa die Wirkung dämonischer Mächte im menschlichen Geist? Es ist nicht schlüssig. Für Leser:innen des 21. Jh. erst recht nicht.
Des Weiteren gibt es in diesem Dialog manche lose Enden. Zum Beispiel wenn es um den Zeichencharakter der Wörter geht. Da fragt der Vater den Sohn, ob Worte Zeichen seien. Der Sohn bejaht. Wenn also ein Satz aus acht Wörtern bestehe, seien da also acht Zeichen? Der Sohn bejaht abermals. Doch was, so der Vater, wenn im besagten Satz das Wort "nichts" vorkomme. Worauf verweise dieses Wort dann? Besitzt es immer noch einen Zeichencharakter, da es ja auf etwas verweist, was nicht existiert und falls ja, was ist dieses Etwas? Damit endet der Gedankengang. Eine Antwort - und sei es in Form einer Hypothese - bleibt der Autor dem Leser schuldig.
Die philosophische Dichte des Werks zeigt sich unter anderem an der Nachdenklichkeit über die Natur des Bedingungssatzes. Die beiden Gesprächspartner überlegen, worauf die Konjunktion "wenn" verweist, wenn sie eine Bedingung ausdrückt. Sie kommen zum Schluss, dass der Bedingungssatz einen Zweifel ausdrücke und fragen sich weiter, wo dieser Zweifel denn angesiedelt sei. Vielleicht in der Seele?
In dieser Offenheit des Denkens besteht meiner Meinung nach der Wert von Augustinus' "Lehrer". Der allzu dogmatisch-christliche Schluss verleiht dem Ganzen einen etwas abgedroschenen Charakter. Vermutlich wollte Augustinus vor der damals wachsenden christlichen Community sein Gesicht wahren oder hat sich in den Glauben gerettet, um den Tod seines einzigen Kindes verkraften zu können. Das Werk ist auf jeden Fall sehr lesenswert.