Cover des Buches Deutschland auf dem Weg in die Anstalt (ISBN: 9783932927904)
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Rezension zu Deutschland auf dem Weg in die Anstalt von Burkhard Voß

Die Anstalt hat uns längst übernommen

von Dr_M vor 9 Jahren

Rezension

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Dr_Mvor 9 Jahren
Es ist schon eine Weile her, dass ich beim Lesen eines Sachbuchs ständig lachen musste. Eigentlich gibt es bei der Darstellung von Schwachsinn, der nicht ohne böse Folgen bleiben wird, nicht viel Komisches. Bis auf den Schwachsinn eben, wenn man einmal ausblendet, dass man von einer seltsamen Elite regiert wird, die frohgemut dem Abgrund zusteuert und sich dennoch sicher sein kann, dass sie stets wiedergewählt wird.

Das Vorwort zu diesem sehr amüsanten Text stammt von Wolfgang Clement, der mit dem Inhalt des Buches - wen überrascht das schon - nicht einverstanden ist. Burkhard Voss meint, wir würden uns kaputtpsychologisieren. Nun ist der Autor Mediziner mit einer Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er muss es also wissen. Das ganze Elend, das uns letztlich in die nationale Irrenanstalt bringen wird, hat er in der sogenannten Reflexivkultur ausgemacht. Darunter versteht er "die Überhöhung und kultische Verehrung des reflexiven Denkens, welches die Aufmerksamkeit von der Umwelt auf das eigene Selbst lenkt". Grundsätzlich - so der Autor - wäre ein solches Denken gelegentlich nicht von Übel. Allerdings wird es zum Gift, wenn man es ständig und aus Prinzip tut. Und da wären wir inzwischen angelangt.

Voss hat drei Säulen dieser Reflexivkultur ausgemacht: Die Psychoanalyse, die keine wissenschaftliche Grundlage besitzen würde und mit der alles und jeder psychopathologisiert werden kann. Dann die postmoderne Philosophie, die sich von Fakten und Empirie verabschiedet hat und mit mathematischen und physikalischen Begriffen hantierend nur noch wirres Zeug von sich gibt. Und schließlich Gender-Mainstreaming, eine Pseudo-Theorie, die uns einreden will, dass es keine biologischen Geschlechter gäbe. Mit den ersten zwei Säulen kommt der normale Mensch kaum in Kontakt, die dritte jedoch ist offizielle Politik der EU, auch wenn das kaum einer merkt. Und wenn man es zufällig mitkriegt, wird man sich mehrheitlich an den Kopf fassen.

Doch Gender-Mainstreaming stellt genau den Punkt dar, an dem man mit dem Autor nicht mehr einer Meinung sein muss. Es ist doch nicht so, dass wir alle zu Hause herumsitzen und nachdenklich in uns hineinhören, ob wir vielleicht doch ein anderes Geschlecht haben als das, was wir nach unseren äußeren Merkmalen vermuten sollten. Immerhin hätten wir viel Stoff zum Nachdenken, denn schließlich gibt es nach dieser schwachsinnigen Theorie nicht nur zwei, sondern viele Geschlechter. Es mag ja sein, dass einige Menschen an dieser Stelle Probleme haben. Voss beziffert ihren Anteil bei einem Prozent der Bevölkerung. Kann man also deshalb sagen, wir würden uns kaputtpsychologisieren? Ist es nicht vielmehr so, dass gerade an dieser Stelle deutlich wird, dass diese Kreise überproportional dort vertreten sind, wo öffentliche Meinung erzeugt werden soll oder wo praktische Politik gemacht wird? Vielleicht wird ja erst so ein Schuh aus der Behauptung des Autors.

Wie auch immer man das sehen mag – das Buch liest sich nicht nur hervorragend, es ist auch sehr amüsant. Und man wird ständig mit Parolen konfrontiert, die man aus den täglichen medialen Verkündungen kennt und vielleicht schon nicht mehr hinterfragt, weil sie sich in der Dauerwiederholungsschleife inzwischen als "Wahrheit" etabliert haben.

Diese "Mythen der Reflexivkultur" entlarvt der Autor im zweiten Teil seines Buches, nachdem er vorher die Theorie und die Ahnen der Reflexivkultur vorgestellt hatte. Das erwies sich für mich als der amüsanteste Teil, auch wenn ich nicht immer mit dem Autor einer Meinung war. Beispielsweise kann man Sinn und Zweck des Achtsamkeitsbegriffs von Buddha nicht an seiner Auslegung durch Esoteriker oder andere Verwirrte messen. Wer hingegen glaubt, dass wir "wertschätzend miteinander umgehen müssen", dass "alle Gspräche auf Augenhöhe stattfinden sollten", dass "alle Entscheidungen transparent sein und unter Beteiligung aller getroffen werden müssten", dass wir "alle Menschen aus Afrika großzügig bei uns aufnehmen sollten", dass "alle Menschen gleich wären" und dass "psychische Erkrankungen zunehmen", der sollte besser Abstand von dieser Lektüre nehmen.

Das Buch enthält am Ende auch noch einige lustige Kapitel über die Deutschen in der Welt, den dauerreflexiven Hypersensitivismus und seiner Sprache sowie über das Schizophrene der Postmoderne. Alles in allem ein sehr unterhaltsames Buch, wenn man wieder einmal über die moderne Welt lachen möchte und es auch noch kann. Allen, die noch nicht dem "Betroffenheitskult" huldigen oder unter einer "generalisierten Heiterkeitsstörung" leiden, sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Es gibt viel Spaß.
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